Samstag, 12. Dezember 2020
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 14
Nun sagt einer der alten Männer: „Das sind doch Kunststückchen, die keinen praktischen Nutzen haben!“
Ich schaue den Mann an und meine: „In der Position SITZ bleiben sie an ihrem Platz. Man weiß immer, wo sie sind. Mit ROLL kann ein Heiler sie am Bauch oder Rücken behandeln, was gerade nötig ist. Mit AUF kann man ihnen etwas in den Mund geben ohne sich bücken zu müssen…“
Dann drehe ich mich wieder zu den Wahine um und sage LELE, RAKA‘U, ZU MIR! Sie erheben sich auf alle Viere und kommen zu mir. Bei mir angekommen, sage ich LELE, RAKA‘U, MÜDE!“
LELE und RAKA‘U legen sich nun auf die Seite und kriechen ganz nahe an mich heran, so dass sie ihre Köpfe auf meine Oberschenkel ablegen können. Die Runde macht große Augen.
Der Kuia erhebt seine Stimme nach einer Gedankenpause wieder:
„Mein Sohn berichtete mir, dass die Wahine den Unterricht im Schreiben öfters gestört haben…“
Ich lächele und sage dazu:
„Wenn sie eine Zeitlang kein Wort von mir gehört haben und ihnen wird in der Position langweilig, in der sie gerade sind, kann es geschehen, dass sie sich selbständig machen und ihre Neugier befriedigen wollen. Genauso würde auch dein jüngster Sohn reagieren. Disziplin kennt er noch nicht, und die Wahine auch nicht wirklich. Es sind Lebewesen wie wir. Also lasse ich sie ihre Neugier befriedigen. Bemerke ich aber, dass sie den Ablauf stören, kommt von mir ein weiteres Wort und die Angelegenheit ist wieder eine Zeitlang bereinigt.“
„Er sagte, er hätte das Wort ebenfalls ausgesprochen, aber sie hätten nicht auf ihn gehört.“
„Er ist nicht ihr Herr!“ begründe ich seine Bemerkung einfach. „Sie gehorchen nur mir. Ausnahmen gibt es natürlich: Wir sind hier nicht in meinem Haus. Sprichst du sie in deiner Eigenschaft als Hausherr an, vergewissern sie sich bei mir, ob ich einverstanden bin, dann gehorchen sie dir. Dieses Vergewissern geschieht über Blickkontakt und eine kleine Geste. Oder man lockt sie mit einer Leckerei…“
„Du meinst also, man könne Wahine ohne weiteres im Fale herumlaufen lassen?“
„Aber sicher! Bei der richtigen Ernährung sind sie sauber und mit dem richtigen Training hat man sie ständig unter Kontrolle. Ja, ich kann sie über die Hängebrücke sogar zu selbständigen Ausflügen in den Wald lassen. Zu Essens- und Schlafenszeiten sind sie regelmäßig zurück, oder wenn sie sich verletzt haben, wenn ich einen Dorn aus dem Fuß entfernen muss, als Beispiel.“
„Die Wundversorgung, das Waschen und Pflegen… du machst das alles selbst! Du hast keinen Poki tane, der das für dich erledigt…“
„Nein, ich bin ihr Herr, also liegt es in meiner Verantwortung mich um meine Wahine zu kümmern!“ sage ich mit fester Stimme. „Das fördert eine starke emotionale Bindung. – Natürlich könnte ich diese Tätigkeiten an eventuelle Söhne oder auch Schüler abgeben, die lernen möchten in meinem Sinne mit Wahine umzugehen. Dann muss ich inkaufnehmen, dass die mentale Bindung der Wahine zu mir geringer wird!“
„Wir haben eine Schule für Wahine… Siehst du dich in der Lage auch andere Wahine in deinem Sinne zu trainieren?“
„Ich würde mich gerne mit dem Chief der Schule zusammensetzen, wenn er das möchte!“ antworte ich und schaue zu dem Mann hinüber, dem ich LELE vor langer Zeit gebracht habe. Der Mann senkt zustimmend den Kopf. Dann wandert mein Blick die Reihe der versammelten Männer entlang und ich ergänze: „Wer das Verhältnis zu seinen Wahine zum Vorteil aller verändern möchte, kann gerne an den Zusammenkünften teilnehmen, wenn es ihm die Zeit erlaubt. Ich bin mir sicher, dass das Mana –die spirituelle Kraft/Macht, die alles durchdringt- dadurch gestärkt wird. Ein Indiz wird sein, dass die Heiler weniger in Anspruch genommen werden müssen.“
Einige der alten Männer kräuseln ihre Stirn. Klar, was immer schon so gemacht wurde und von den Vorfahren tradiert ist, lässt sich nicht leicht verändern. Es wird Zeit brauchen.

*

Ich habe mich aufgeteilt. Vormittags unterrichte ich meine Schüler im Schreiben. Nachmittags gehe ich zu dem Chief der Schule. Im Umgang mit den Leuten hier habe ich erkannt, dass der Titel ‚Kahuna‘ nicht nur ‚Navigator/Kapitän‘ bedeutet, sondern globaler für ‚Weiser/Experte‘ verwendet wird. Um den Titel zu erhalten, muss man ein jahrelanges Studium seines Fachgebietes hinter sich und eine gewisse traumwandlerische Sicherheit auf seinem Gebiet erlangt haben.
Unter dieser Prämisse betrachtet ist auch der Chief der Schule ein ‚Kahuna‘, ich selbst jedoch noch lange nicht. Auch wenn ich die Schrift entwickelt habe, die ich lehre, muss ich selbst jedoch immer noch in der Liste nach dem richtigen Silbenzeichen suchen. Genauso kann ich inzwischen ein Doppelrumpf-Kanu führen, mache aber immer noch Fehler bei der Sternen-Navigation. Auch werden meine Sinne nie so geschärft sein, dass ich an den Wellen erkennen kann in welcher Richtung die nächste Insel unter dem Horizont liegt. Da behelfe ich mich schonmal am Vogelflug.
Entsprechend achtungsvoll begegne ich dem Kahuna der Schule. Außerdem bin ich ihm Dank schuldig, da er sich damals um LELE und RAKA‘U gekümmert hat.
Bei meinem ersten Besuch in der Schule für Wahine nach dem Hui –Versammlung der Experten- im Pae’nga Fale –Gemeinschaftshaus- begleiten mich LELE und RAKA‘U frei laufend. Ihre Leinen führe ich in der Umhängetasche mit und mit einem Bambusstab in der Hand helfe ich mir durch die Vegetation. Ausgebaute Wege, wie ich sie aus der Zivilisation kenne, gibt es nicht.
Wir sind erst wenige Minuten unterwegs, als sich mir LELE in den Weg stellt. Sie ist ein paar Schritte voraus gelaufen, dann stehen geblieben, hat einen Laut von sich gegeben und sich dann um neunzig Grad gedreht mir in den Weg gestellt. Auf den Ruf hin ist RAKA‘U heran gekommen und drückt sich so gegen mein Bein, dass ich einen Schritt zur Seite machen muss.
Ich umgehe das Gebüsch vor mir also auf der anderen als der geplanten Seite und beide folgen mir, um sich danach wieder vor mir zu platzieren. Ich schaue zurück, neugierig darauf, warum ich den geplanten Weg verlassen sollte. Da sehe ich den gestreiften Leib einer Giftnatter. Mir sträuben sich die Nackenhaare. Ein warmes Gefühl von Dankbarkeit und Zuneigung erfüllt mich. Auf dem weiteren Weg folge ich dem Weg, den meine Wahine nehmen.
Dann treten wir auf die Lichtung, auf der das Haus meines Gastgebers steht. Wieder sehe ich einige Poki tane –Jungs- sich unter dem Pfahlbau und in der angrenzenden Pflanzung beschäftigen. Diesmal schauen sie nur auf, statt sich zum Begrüßungstanz zu formieren. Einer der Jungs steigt die Treppe hinauf und kommt kurz darauf mit dem Hausherrn zurück. Der Junge beginnt seine Arbeit wieder, während der Hausherr mir entgegenkommt.