Sonntag, 27. Dezember 2020
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 29
In der Folgezeit habe ich nur noch Augen für den jungen Mann. Zwar begleiten uns auch noch andere während meines Trainings als Begleiterin, aber diese lassen meinen Gefühlen nicht solche Flügel wachsen. Durch Zuhören erfahre ich, dass der junge Mann, dem meine Sehnsucht gilt, Mateo heißt und Sohn eines Kahunas ist, der ein Vaka besitzt, diese traditionellen Auslegerkanus. Auch diese Information macht den jungen Mann für mich attraktiv.
Eines Morgens werden wir geweckt, bekommen unser Frühstück und werden gewaschen, gekämmt und eingecremt. Heute soll der Tag sein, an dem wir in andere Haushalte vermittelt werden, erklären uns die Poki tane die besondere Pflege.
Und wirklich! Am Vormittag kommen die Männer, die wir schon während des Spezialtrainings kennengelernt haben. Sie stehen nebeneinander am Zaun und schauen, was sich im Gehege tut. In ihren Händen halten sie Süßigkeiten.
Wie die anderen vierzehn Wahine schaue auch ich, ob sich unter den Männern am Zaun ein bestimmter befindet. Mein Herz macht einen Sprung, als ich Mateo entdecke. Ich laufe blindlings zu ihm hin und stoße dabei mit einer anderen Wahine zusammen. Will sie mir den Herrn streitig machen? Ein seltsames Gefühl der Leere durchzieht mich… Halt, Herz, jetzt keine Aggression aus Eifersucht! Mateo soll entscheiden!
Die Wahine versucht mich mit der Schulter abzudrängen, aber das lasse ich nicht zu. Unbeirrt laufe ich auf Mateo zu. Der junge Mann lächelt und als wir ihn erreichen übergibt er mir die Süßigkeit, obwohl sie mit senkrecht aufgerichtetem Rücken auf ihren Fersen sitzt und die Fäuste in Schulterhöhe hebt. Das freut mich. Ich habe nur Augen für ihn. Mich hat er gewählt, nicht sie!
Der Poki tane am Tor öffnet es ein Stück weit und Mateo sagt, während er mich anschaut:
„IKA, ZU MIR!“
Erfreut hebe ich die Knie vom Boden und laufe zu ihm, so schnell ich kann. Bei ihm angekommen reibe ich meine Wange an seinem Oberschenkel und schaue erwartungsvoll zu ihm auf. Wir haben in der Schule vieles über die Gestik und Mimik der Männer gelernt. Nicht nur die tonlosen Kommandos über Fingerzeige, sondern auch Kleinigkeiten, wie Hand-, Finger- oder Hüftbewegungen der Männer, die Ausdruck ihrer Gefühle sind. So ist es im Grunde kein Geheimnis, dass eine Wahine die Stimmungen und Wünsche ihres Herrn vorauszuahnen scheint.
Entspannt dreht er sich zum Gehen und sagt:
„IKA, BEI FUSS!“
Ich begleite ihn, an seiner rechten Seite gehend, in den Wald hinein. Bald schlägt er einen Weg ein, den ich noch nicht kenne und eine halbe Stunde darauf erreichen wir eine ähnliche Lichtung wie die, auf der die Schule steht. Auch hier steht ein Fale, großes Haus mit hochgezogenen Giebeln, um das sich mehrere kleine Hütten gruppieren. Im Hintergrund gibt es auch hier einen Garten, in dem Nutzpflanzen wachsen. Er geht ein paar Minuten zwischen den Hütten umher, aus denen hin und wieder Köpfe von Wahine neugierig hervor schauen.
Ich sehe andere Poki tane im Garten und zwischen den Hütten geschäftig umher gehen. Die jungen Männer tragen die hier üblichen Lavalava –Wickelröcke-. Sie erscheinen mir kräftig, fest zupackend, mit fröhlichem Lachen scherzend. Ich schaue zu meinem Herrn auf, als dieser sich einer Hütte nähert. Er ist der schönste von allen!
Mateo betritt die Hütte und zeigt mir ein Kissen im Hintergrund. Dazu sagt er:
„IKA, KISSEN!“
Ich laufe dorthin und lege mich darauf, ihn unverwandt anblickend. Oh, wie sich der Stoff an meinen Körper schmiegt… Das ist etwas ganz anderes, als die Decken auf hartem Grund, die es in der Schule gab.
„Dies ist ab sofort dein Zuhause!“ sagt er im sanften Ton.

*

Meine Wahine LELE und RAKA‘U sind mit mir zum Strand hinunter gekommen. Sie wollen der Abfahrt des großen Reisekanus zuschauen. Ich kann sie verstehen. Auch ich kann mich kaum von ihnen trennen, so sehr sind sie mir ans Herz gewachsen. Die letzte Nacht sind beide zu mir in die Hängematte gekommen und haben sich an mich gekuschelt.
Ich bin der einzige Passagier an Bord des großen Reisekanus, das nicht wie üblich aus einem Kanu mit einem Ausleger besteht, sondern aus zwei miteinander verbundenen Kanus. Auf die Stämme, die die beiden Kanus verbinden, wurde eine Plattform gelegt und darauf ein windgeschützter Unterstand errichtet.
Der Kahuna hat sich einen geknickten Palmwedelzweig um den Hals gelegt und sitzt auf der Plattform an einer Stelle, von wo er alles gut im Blick hat. Nachdem die Insel hinter dem Horizont verschwindet, setze ich mich in seine Nähe um mich unterhalten zu können, aber auch um von ihm zu lernen. Die sechs Poki tane an Bord wissen aber auch ohne ihn, was zu tun ist. Jeder Handgriff sitzt. Der Kahuna gibt den beiden Steuerleuten im Heck der beiden Kanus nur ab und zu Hinweise mit ruhiger Stimme oder Handzeichen, je nachdem wie laut die Naturgewalten sind.