Freitag, 4. Dezember 2020
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 06
Fast zwei Monate sind seit dem Erlebnis vergangen. Ich habe meine Studien in Navigation wieder aufgenommen. Nun bemerke ich Aktivitäten außerhalb des normalen Tagesablaufs im Dorf. Es beginnt der Bau eines weiteren Pfahlhauses.
Auf mein Nachfragen hin berichtet mir Mateo, dass es sich um das Zeremonienhaus für die Initiation handelt. Dort werden den pubertierenden Poki tane die ersten Tattoos geklopft.
„Geklopft?“ frage ich.
„Ja, das Instrument dafür sieht aus wie ein kurzer Kamm an langem Stiel und wird aus einem Knochen geschnitzt.“
„Ah,“ mache ich.
Wilde Gedanken sausen mir durch den Kopf, weiß ich doch, dass mir das Gleiche bevorsteht.
„Muss ich eigentlich irgendetwas beisteuern?“ frage ich ihn, denn ich weiß noch, was er mir von der Hierarchie des Stammes erzählt hat. Dass man sich den höheren Status irgendwie erkaufen muss, hat er mir vor einigen Monaten erzählt, kurz nachdem ich auf die Insel gekommen bin.
„Du solltest ein Tag vor der Feier mit einer Schlinge in den Wald gehen,“ meint Mateo. „Dann bittest du die Aitu –Geister, Dämonen, Schutzgötter- um Verzeihung und wartest, welcher unserer Brüder in der Natur seinen Fuß in deine Schlinge steckt. Diesem schneidest du die Kehle durch, lässt ihn ausbluten und bringst ihn ins Dorf.“
„Okay, das werde ich machen,“ stimme ich zu.
Drei Wochen später fordert Mateo mich auf, in den Wald zu gehen. Vorher hat er mir das Herstellen der Schlinge und Jagen mit ihr gezeigt. Ich sehe auch andere junge Männer in den Wald gehen. Mit ihnen möchte ich mich nicht um Jagdbeute streiten. Auch möchte ich nicht dorthin gehen, wo sie jagen. Sollen sie ruhig mit Echsen, Skorpionen und Schlangen ins Dorf zurückkehren! Ich klettere auf einen Baum und hänge die Schlinge gut getarnt ins Laub. Dann klettere ich wieder hinunter und suche mir den nächsten Baum.
Als ich meine fünf Schlingen verteilt habe, wende ich mich wieder dem Baum zu, in dem meine erste Schlinge hängt. Aufgeregtes Geschrei und Geflatter tönt mir schon entgegen. Ich pflücke den Manu –Vogel- vom Baum und leere nacheinander auch die anderen vier Schlingen. Aus den Schwungfedern fertige ich einen Schulterumhang. Die Vögel gebe ich den jungen Männern, die das Festmahl vorbereiten. Dann gehe ich zum Kahuna, der bei der Initiation mein Pate sein soll. Ihm schenke ich den Federumhang.
Das Geflügel wird mit der Jagdbeute der anderen Teilnehmer an der Initiation im Umu –Erdofen- gegart und mit reichlich Kawa kawa –ein narkotisches Getränk aus der Wurzelknolle der Kawapflanze- verzehrt. Dann beginnt der Kahuna, mein Pate für die Initiation, über das Verfahren zu sprechen als sich ein weiterer Mann neben uns setzt und ein zur Tasche gefaltetes Tuch neben sich legt. Alle Männer außer den Initianten haben sich für den heutigen Tag festlich herausgeputzt. Sie haben Blätterkränze umgelegt und Blüten in ihre Ohrlöcher gesteckt. Mit Gelbwurz haben sie ihre Oberkörper gelb gefärbt, mit Ausnahme ihrer Tätowierungen, die durch den Farbkontrast nun deutlicher hervorgehoben sind.
„Du hattest zu Beginn deines Aufenthaltes ein Tabu genannt bekommen…“
„Ich weiß,“ erwidere ich und schlage schuldbewusst meine Augen nieder, „und ich hatte versprochen das Tabu zu achten, um eure Kultur nicht zu beleidigen.“
„Ich hörte, dass du das Tabu gebrochen hast…“
„Das stimmt. Ich war wohl zur falschen Zeit am falschen Ort,“ erkläre ich ihm. „Dort ging der Wald bis zum Ufer und ich bemerkte, dass sich ein wilder Bruder aus der Natur – wie ich dachte – verletzt haben musste bei dem Versuch sich zurückzuziehen. Mein Bestreben ist es aber zu helfen, wo ich kann. Deshalb habe ich mich nun nicht zurückgezogen, sondern bin zu ihm hin.“
„Du hättest also jedem Geschöpf geholfen, dass du verletzt vorgefunden hättest? Auch wenn es den Menschen gefährlich werden könnte?“
„Über den Grad der Gefährdung hätte mich Mateo sicher aufgeklärt und danach hätte sich mein Handeln gerichtet!“
„Nun hast du dabei etwas entdeckt, von dem kein Haole –Weißer, Europäer- je erfahren darf! Diese Leute haben schon so viele Kulturen zerstört, so vielen Menschen entwurzelt… Du hast nun zwei Möglichkeiten: entweder du lebst bis an dein Lebensende auf dieser Insel unter den Iwipapa, oder du lässt dich auf deinen Reisen stets vom Echsendämon begleiten.“
„Ich wähle die Initiation,“ sage ich mit belegter Stimme, denn das Kawa kawa beginnt seine Wirkung zu tun.
„Du bist dann ein Mitglied unseres Stammes und wirst unsere Tradition und Kultur zeitlebens achten.“
„Das werde ich.“
Der Kahuna rückt nun ganz nahe an mich heran und setzt ich vor mich. Ich ziehe mein T-Shirt aus, was mir beim zweiten Versuch gelingt. Dann umarmt mich mein Pate unter meinen Achseln, zieht mich ganz an seine Brust und hält mich so fest.
Der andere Mann faltet nun das Tuch auseinander, nimmt sein Werkzeug in die Hand und beginnt auf meinem oberen Rücken und dem Schulterbereich herum zu hämmern. Ich beiße meine Zähne zusammen und schließe die Augen. Trotz der narkotischen Wirkung des Kawa kawa schmerzt die Behandlung so sehr, dass es mir Tränen in die Augen treibt. Ich schließe sie. Im Unterbewusstsein höre ich den monotonen Gesang der anderen Initianten, die sich im Kreis um uns herum gesetzt haben.
Schließlich fühle ich Hände, die eine kühlende Substanz auf meinem Rücken verteilen. Dann lässt man mich auf dem Bauch liegend in der Zeremonienhütte, der Whare fale, ausruhen.
Als ich wieder erwache liegen um mich herum die anderen Initianten unter großen Blättern. Auch ich fühle die kühlende Wirkung der Blätter auf meinem Rücken. Abwartend bleibe ich erst einmal reglos liegen.
Nach einiger Zeit kommen die alten Männer, die den Hui –Versammlung, Rat- des Stammes bilden. Die Paten kümmern sich um die Initianten. So nähert sich der Kahuna mir, hebt die Blätter an und begutachtet die Narben, die der knöcherne Tattoo-Hammer auf meinem Rücken und der Schulter hinterlassen hat. Dann fordert er mich auf, mich zu erheben und mich hinzusetzen.
Der Kuia –Stammesälteste- ruft etwas nach draußen, und wenig später kommen Poki tane mit großen Muscheln in den Händen herein. Einer der kleinen Jungs kniet sich mir zur Seite und beginnt meinen Rücken zu pflegen. Die anderen Poki tane kümmern sich jeweils um einen anderen Initianten. In den Augen des Jungen, der meinen Rücken einreibt, kann ich Ehrfurcht erkennen. Ich lächele ihn an und er senkt seinen Blick.