Mittwoch, 23. Dezember 2020
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 25
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Mein Name ist Mary Alotao. Ich bin in einem Fischerdorf in Papua-Neuguinea aufgewachsen. Mit Hilfe des Priesters hier und einer internationalen Hilfsorganisation bin ich mit elf anderen Kindern aus dem Ort in ein Internat nach Port Moresby gekommen. Dort lernen wir viel. Ich habe mir vorgenommen, später einmal in der Touristik zu arbeiten. Als Guide kann ich Touristen führen und die Fischer im Dorf können sich mit Ausflugsfahrten ein Nebeneinkommen verschaffen, wenn ich Touristen in mein Heimatdorf bringe. So kann ich dann meine Eltern auch unterstützen, wenn sie alt geworden sind.
Gerade hab ich wieder Ferien und verbringe sie – wie immer – bei meinen Eltern. Ich spiele Beach-Volleyball mit den anderen Internatsschülern aus meinem Dorf. Das Spiel haben wir im Sportunterricht kennengelernt. Abends, wenn mein Vater vom Fischen kommt, hilft die ganze Familie und damit auch ich, den Fang zu versorgen. So falle ich stets spät müde ins Bett.
Ich weiß nicht, wann ich für mein Schicksal ausgesucht worden bin. Ich habe nicht bemerkt, dass man auf mich aufmerksam wurde.
Eines Morgens bin ich später aufgewacht. Ich schwinge die Beine aus dem Bett und stehe auf. Sofort muss ich mich abstützen und lasse mich auf das Bett zurückfallen. Ich verstehe nicht, wieso ich heute Morgen so benommen bin. Nach einer Weile versuche ich wieder aufzustehen. Diesmal klappt es. Ich ziehe mir etwas an und gehe zum Strand hinunter. Papa ist schon längst mit seinem Boot draußen. Meine Mitschüler haben heute etwas anderes vor, also werfe ich mich in die Brandung und schwimme etwas. Zurück am Strand fühle ich mich schon wieder wohler.
Ich lege mich in den Sand und schaue der aufgehenden Sonne zu. Darüber werde ich schläfrig. Also setze ich mich auf und ziehe die Beine an. An der Innenseite des rechten Beines, knapp über dem Knöchel, erkenne ich etwas, das gestern Abend noch nicht da gewesen ist. Ich beuge mich vor und reiße die Augen auf. Dort prangt, etwa vier Zentimeter im Durchmesser, der Fußabdruck eines Hundes. Wer hat mich über Nacht tätowiert, ohne dass es irgendjemand bemerkt hat? Und welche Bedeutung hat dieses Zeichen?
Ich stehe auf und laufe nachhause. Aber auch Mama kann sich nicht erklären, was passiert ist. Sie sagt, ich solle den Tag zuhause verbringen. Also mache ich mich im Haushalt nützlich und helfe Mama beim Putzen und am Abend beim Kochen. Als die Zeit gekommen ist, dass Papa vom Fischen zurückkommt, darf ich nicht mit ihr zum Strand hinunter gehen.
Ich habe mich in mein Zimmer zurückgezogen, die Ohrhörer in die Ohren gesteckt und meine Musik eingeschaltet. Als es dunkel wird habe ich plötzlich das Gefühl, dass da noch jemand im Zimmer ist. Starr vor Schreck ziehe ich mich an die Fensteröffnung zurück. Ich habe entsetzliche Angst.
„Ganz ruhig,“ lässt sich plötzlich eine Stimme vernehmen.
Sie spricht in einem mir unbekannten Dialekt. Schnell bin ich auf dem Fenstersims und springe durch die Öffnung nach draußen. Meine Füße berühren den Erdboden. Etwas Weiches gleitet über meinen Kopf und nimmt mir die Sicht. Sogleich wird mir Stoff tief in den Mund geschoben und hinten im Nacken verknotet. Ich versuche zu schreien, bringe aber keinen Ton heraus.
„Wir haben sie,“ höre ich eine Stimme in demselben Dialekt sagen.

*

Ich bewege mich unruhig, schüttele den Kopf. Der Eindruck beschleicht mich, als läge ich in etwas sehr engem. Der kleine dunkle Raum neigt sich stark, um urplötzlich wieder zurück zu fallen. Oh, fühle ich mich gerade schlecht. Ich bin doch schon oft mit Papa auf das Meer hinaus gefahren, aber jetzt kann ich die Dünung der Wellen gerade nicht ertragen. Dass wir auf dem Ozean sind, darüber bin ich mir sicher. Ich bin entführt worden!
Mir fällt ein Märchen ein, mit dem mich meine Eltern immer geschockt haben, wenn ich früher einmal ungezogen gewesen bin. Fischmenschen würden kommen und mich mit sich nehmen, haben sie dann immer gesagt. Sicher, ich bin nicht immer brav gewesen, habe mich meinen Eltern aus Bequemlichkeit manchmal widersetzt. Dass das Märchen irgendwann einmal wahr werden würde, hätte ich nie für möglich gehalten.
Irgendwann bemerke ich, dass ich nicht mehr alleine bin. Jemand kommt gebückt auf mich zu. Er nimmt mir den Stoff aus dem Mund. Dann gibt er mir zu essen und zu trinken.
„Hier hört dich niemand,“ sagt er. „Du brauchst nicht schreien! Wenn du es aber dennoch tust und uns damit nervst, erhältst du das Tuch wieder in den Mund! Wirst du still sein?“
Ich nicke und antworte leise: „Ja, ich werde still sein. Darf ich fragen, wohin wir fahren?“
„Neugier steht dir nicht zu,“ sagt er und verlässt mich in gebückter Haltung rückwärtsgehend.
Der junge Mann, der mir mein Essen in regelmäßigen Abständen bringt, ist wahrscheinlich jünger als ich.
„Wo bringt ihr mich hin? Was habt ihr mit mir vor?“ habe ich ihn bei seinen Besuchen öfter gefragt, doch er hat mir nie eine Antwort gegeben. Nur immer die Bemerkung, ich solle nicht Neugierig sein.
Schließlich werde ich wieder einmal müde und schlafe in dem engen Gefängnis an Bord ein. Als ich wach werde, finde ich mich im Gras auf dem Bauch liegend, den Kopf zur Seite gewendet. Verwirrt bleibe ich liegen; abwartend, was weiter mit mir passiert. Dann realisiere ich, dass ich allein hier liege. Dass die Entführer mich einfach so abgelegt haben, lässt meine Verwirrung nicht weniger werden. Ich stemme mich hoch und drehe mich dabei, so dass ich nun im Gras sitze und in die Richtung blicke, in der meine Füße eben noch gelegen haben.
Nicht weit von der Wiese entfernt beginnt ein weiter Strandsand und in einiger Entfernung laufen die Wellen auf den Strand. Ob wir gerade Ebbe haben? Wo bin ich hier? Wo sind die Entführer?