Dienstag, 29. Dezember 2020
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 31
Unser weiblicher Passagier wird wieder mit einem Pflanzensud betäubt und das Tattoo vervollständigt. Dann bringen zwei Männer sie an Land, was hier recht einfach ist. Den Männern reicht das Wasser hier nur bis zum Bauchnabel. Unter den Füßen haben sie Korallensand, von dem sie hin und wieder einen Plattfisch aufscheuchen.
Wir bleiben bis zum Morgengrauen bei ihr. Dann paddeln wir fort, damit sie uns nicht sieht, wenn sie erwacht. Von hier ist es egal, in welche Richtung sie sich wendet. Irgendwann wird sie auf jemand von uns treffen. Am Nachmittag sind wir schließlich beim Fale Pae’nga –Gemeinschaftshaus- angekommen.
Auf diesem letzten Stück reift in mir der Gedanke, dass ich die junge Frau nicht sich selbst überlassen kann. Klar, nach Ansicht der Iwipapa ist es eine Prüfung für die Frau, ob sie mit der Natur auf der Insel zurechtkommt. Es mag auch sein, dass die Frauen sich früher gegenseitig unterstützt haben, als sie noch in den Wäldern gelebt haben. Sicher, auch jetzt dürften noch vereinzelt Frauen in den Wäldern leben. Aber ich habe für mich entschieden, dass ich LELE und RAKA‘U zu ihr schicke. Vielleicht gewinne ich den Chef der Schule auch noch, damit er RA’A und HETU’U den gleichen Auftrag gibt.
Mein erster Weg führt mich also zu meinem Fale. LELE und RAKA’U sind außer sich vor Freude bei der Begrüßung. Meine Kleine, RAKA’U hätte mich beinahe umgeworfen. Um ein besseres Gleichgewicht zu haben gehe ich in die Hocke und stütze mich mit einer Hand. Das hätte ich vielleicht nicht tun sollen: Wenige Sekunden später liege ich flach und sie leckt mir über die Brust. LELE nutzt die Situation und kuschelt sich eng an mich. Sie reibt ihre Wange an meiner Seite, während ich meinen Arm um sie lege und schwache Abwehrbewegungen in Richtung RAKA’U mache.
So vergehen Minuten, die ich genieße. Aber dann rappele ich mich wieder auf und sage:
„LELE, RAKA’U, BEI FUSS!“
Dann wende ich mich zum Gehen. Wir wandern den Trampelpfad entlang durch den Wald zur Schule. Dort erkläre ich dem Kahuna, meinem Freund, mein Vorhaben. LELE und RAKA’U sollen gemeinsam mit RA’A und HETU’U der jungen Frau den Weg zur Schule weisen. Schließlich sollen sich RA’A und HETU’U intensiv um sie kümmern und ihr zeigen, wie sich Wahine auf dieser Insel verhalten.
Der Kahuna ist einverstanden. Wahrscheinlich würde die neue Inselbewohnerin sowieso irgendwann in die Schule gebracht werden, sicher ist das jedoch nicht. Der erste Tangata, dem sie über den Weg läuft, könnte Anspruch auf sie erheben – und was das für die Wahine bedeuten kann, hat die Vergangenheit oft genug gezeigt. So aber kann der Kahuna oder ich Anspruch auf sie erheben, und ich trete meinen Anspruch teilweise an die Schule des Kahuna ab. Teilweise sage ich deshalb, weil ich Einfluss auf ihr Training behalten will. Es muss einfühlsam geschehen, denn sie dürfte völlig verstört sein. Man kann sie nicht so behandeln wie die Wahine, die hier geboren wurden.
Also wandere ich mit einem Poki tane des Kahuna und den vier Wahine zur gegenüberliegenden Seite der Insel.
Als wir dort eintreffen, wo sie abgelegt wurde, ist die Stelle leer. Aber LELE, RA’A und HETU’U sind erfahrene Spurenleserinnen. Sie schwärmen aus und kurze Zeit später haben sie Spuren an den Büschen gefunden. Hier und da sind die Spitzen einiger Zweige abgeknickt. In dieser Richtung dauert es etwas länger bis zum Fale Pae’nga, aber das kann uns nur recht sein.
Der Grasstreifen mit vorgelagertem Strand wird hier und da von felsigem Untergrund abgelöst, Kokospalmen und andere hochwachsende Pflanzen haben ihr Wurzelwerk dazwischen verankert. Die junge Wahine muss sie überklettert haben, denn dahinter nehmen unsere Spurenleserinnen ihre Fährte wieder auf. Wir durchwaten den Wasserlauf, durch den ich vor langer Zeit den Felstopf mit dem Wasserfall erreicht und LELE kennengelernt habe.
Als es dunkel wird und wir die junge Wahine immer noch nicht eingeholt haben, lasse ich LELE und die anderen Wahine leise auf breiter Front vorausgehen. Ich folge mit dem Poki tane des Kahuna der Schule langsam nach.
RAKA’U kommt uns plötzlich entgegen, setzt sich vor mich auf ihre Fersen und wartet, bis ich sie erreicht habe. Dann reibt sie kurz ihre Wange an meinem Oberschenkel und schaut zu mir auf.
Ich zeige in die Richtung aus der sie gekommen ist, falte meine Hände, hebe sie hoch und lege meine Wange an einen der Handrücken. RAKA’U lächelt mich an und geht wieder auf alle Viere. Sie dreht sich um, läuft zwei Schritte und schaut sich dann wieder nach uns um.