Sonntag, 6. Dezember 2020
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 08
Plötzlich kommt so ein schwimmender Baum, von zwei Tangata voran bewegt. Die Tangata – ein älterer hellhäutiger und ein junger in der gleichen dunklen Hautfarbe wie wir – steigen an Land und ziehen ihr Gefährt ins Unterholz am Ufer.
Während ich den Hellhäutigen anstarre muss meine ältere Freundin wohl eine unbedachte Bewegung gemacht haben, oder wollte sie sich verstecken? Sie fällt oder springt so vom Baum, dass ich für den Moment nicht mehr auf die Tangata achte. Dann aber krieche ich vorsichtig in Richtung Stamm zurück und versuche mich hinter dem Ast zu verstecken in der Hoffnung, dass die ganze Aufmerksamkeit der Tangata meiner älteren Freundin gilt.
Denn die Tangata sind stehen geblieben und unterhalten sich, während der Hellhäutige immer wieder auf das Unterholz zeigt, dort wo meine ältere Freundin zwischen den Blättern verschwunden ist.
Der Hellhäutige beugt sich hinunter und teilt die Blätter der Pflanzen vor sich, dann richtet er sich ruckartig wieder auf und macht einen Schritt zurück. Er wendet sich zu dem Anderen und fragt ihn wohl etwas. Meine ältere Freundin muss wohl dort liegen und ist entdeckt worden. Schnell verstecke ich mich wieder hinter dem Stamm, den ich inzwischen erreicht habe.
Jetzt bekomme ich nicht mehr mit, was sich unter dem Baum weiterhin tut, aber ich habe zuviel Angst vor Entdeckung. Die Wahine bleiben immer den Wegen durch den Wald fern. Sie haben vor den Tangata Angst.
Zuerst habe ich nicht verstanden, warum. Dann habe ich mal miterlebt, wie die Tangata in breiter Front durch den Wald gegangen sind. Sie haben sich keine Mühe gemacht, nicht aufzufallen. Die Wahine, die vor ihnen davongelaufen sind, sind dann in Netzen gelandet, wurden gefesselt und unter großem Lärm zu ihren Hütten getragen…
Hier ist aber irgendetwas anders. Nach einer Weile kommt der Jüngere zu mir und will mich vom Baum holen. Ich habe inzwischen meine Starre überwunden und rutsche den Stamm abwärts. Er umrundet den Baum und nimmt mich in Empfang. Ich spüre eine gewisse ängstliche Zurückhaltung bei ihm. Das kenne ich sonst nicht von den Tangata. Er hakt zwei Finger in mein Halsband aus Rindenbast ein und führt mich zu dem Hellhäutigen. Ich habe Angst und stemme mich dagegen.
Der Hellhäutige hat etwas um den Fuß meiner älteren Freundin getan und trägt sie auf seinen Armen. Sie ist nicht gefesselt und wehrt sich auch nicht dagegen. Ich gehe mit dem Jüngeren vorneweg, der uns mit seinem langen Messer den Weg durch das Unterholz frei hackt. Langsam beruhige ich mich.
Wir kommen auf eine Lichtung und ich erkenne den Ort wieder, wo ich etwa zehn Jahre meines Lebens verbracht habe. Hier bin ich geschult worden und wir haben viel gespielt und Spaß gehabt. Der Herr der Schule tritt uns mit einem langen Messer in der Hand entgegen. Er macht ein grimmiges Gesicht, aber ich fühle, dass er innerlich warmherzig ist.
Dann kommen auch die Poki tane hinzu. Sie haben Stöcke in der Hand, die sie mit Gebrüll in unsere Richtung stoßen. Da mein Führer stehenbleibt, setze ich mich auf meine Fersen und schaue mich nach dem Hellhäutigen um, der meine Lehrmeisterin in seinen Armen liegen hat. Er tritt neben mich und wartet ab.
Dann beendet der Kahuna die Zeremonie und kommt auf uns zu. Er spricht den Hellhäutigen an und es entwickelt sich eine kurze Unterhaltung. Dann geht der Hellhäutige in die Hocke und legt meine ältere Freundin vorsichtig ab. Dabei geht er sehr fürsorglich vor. Trotzdem kann ich erkennen, dass meine Lehrmeisterin große Schmerzen haben muss. Der Kahuna beauftragt seine Poki tane einige Gegenstände zu holen, mit denen er den schmerzenden Fuß behandelt. Sie stöhnt einmal gepeinigt auf, so dass ich einen Schritt auf sie zu mache und meine Wange an ihrer Seite reibe.
Er wendet sich wieder an den Hellhäutigen und sie unterhalten sich weiter. Aus der Tonlage des Hellhäutigen schließe ich, dass er einen sehr fürsorglichen Charakter hat. Ich bin hin und her gerissen, wenn ich überlege wie es weitergehen soll. Allein zurück in den Wald mag ich nicht. Ich fühle mich meiner älteren Freundin zu sehr verbunden. Wenn sie hier gesund wird, dann will ich meinen Beitrag dazu leisten, indem ich ihr beistehe. Aber da ist noch etwas tief in meinem Innern: Ein bisher nie gekanntes Gefühl für den hellhäutigen Tangata.
Schließlich lässt der Kahuna von meiner Lehrmeisterin ab und erhebt sich. Er sagt wieder etwas zu dem so fürsorglichen Tangata und dieser beugt sich vor. Er nimmt meine ältere Freundin auf seine Arme und steht vorsichtig mit ihr auf. Dann geht er vor dem Kahuna in dessen Hütte. Ich folge ihnen mit dem Poki tane, der den hellhäutigen Tangata hierhergeführt hat. Andere Poki tane entfachen ein Feuer zwischen Steinen, so dass man im Inneren besser sehen kann.
Der Kahuna führt den Mann zu dem kleinen Gehege an der Rückwand der Hütte, öffnet es und der hellhäutige Mann geht in die Hocke, um meine Lehrmeisterin darinnen auf den Boden zu legen.
Der Poki tane in Begleitung des Hellhäutigen schiebt mich von hinten an. Ich schaue auf und mache drei schnelle Schritte ins Innere des Geheges. Meine ältere Freundin macht nun auch einen Schritt nach innen von der Öffnung weg, die danach verschlossen wird. Ich orientiere mich kurz und ziehe eine Decke von einem kleinen Stapel aus einer Ecke, die ich ihr bringe.
Sie lächelt mich dankbar an, geht dann aber langsam auf die Gestalten zu, die sich im Hintergrund an die Rückwand der Hütte drücken. Sie tut es mit einer Beschwichtigungsgeste, indem sie sich beinahe seitwärts bewegt und die anderen Wahine nicht direkt anschaut. So lassen diese meine ältere Freundin ruhig näherkommen. Vor ihnen macht meine Lehrmeisterin die typische Spielverbeugung.
Nun steht eine der Wahine auf, geht auf ebenfalls langsam seitwärts sie zu und legt ihren Kopf sanft auf den Nacken meiner Lehrmeisterin. Sie ist anscheinend die Erste hier. Ich beeile mich meine Lehrmeisterin nachzumachen, und auch mir legt sie ihr Kinn sanft in den Nacken. Nun kommen auch die anderen Beiden näher und wir lassen wieder das Gleiche zu. So haben wir uns an das untere Ende der Rangfolge eingeordnet, wie es sich für Neuankömmlinge in einer etablierten Gruppe geziemt.
Dann jedoch laufe ich zum Gittergeflecht des Geheges zurück, neugierig was sich davor tut. Der Kahuna sitzt mit dem Hellhäutigen und dem Poki tane am Feuer und trinken miteinander. Dabei unterhalten sie sich. Mein Eindruck ist, dass sie sich dabei gegenseitig abschätzen.
Der Hausherr scheint von seinem Gast positiv angetan zu sein.
Bald darauf erhebt sich der Hausherr. Damit ist die Unterhaltung zu Ende. Im Eingang verabschieden sie sich herzlich. Dann ist der Hellhäutige verschwunden. Ich drehe mich zu meiner Lehrmeisterin um und sehe, dass sie es sich auf der Decke bequem gemacht und einen Zipfel um ihr verletztes Fußgelenk geschlungen hat. Ich laufe zu ihr, lege mich neben ihr ab und kuschele mit ihr.