Donnerstag, 19. November 2020
Chico (11)
‚Chico‘ musste schon ständig angetrieben und auch immer wieder gemaßregelt werden, da er sonst entweder den ganzen lieben langen Tag faul auf seiner Decke verbracht hätte oder sich in seine Hütte im Außenzwinger zurückgezogen und geschlafen hätte.
Aber wie er die Rolle des Hundes vom ersten Tag an angenommen hatte, umgesetzt und gelebt hatte, war schon phänomenal. Ich möchte das auch bitte nicht falsch verstanden wissen, aber ein Hund, ob tierisch oder menschlich, macht auch einen Haufen Arbeit und die blieb naturgemäß an mir hängen.
Nur mal ein paar Beispiele: ich musste ständig mit ihm raus und Gassi gehen, das Essen zubereiten, ihn sauber machen usw. Auf der anderen Seite darf ich mich auch nicht beschweren, denn ich hatte es ja so gewollt, oder hat jemand schon mal einen Hund gesehen, der für sich selbst kocht? Aber die schönen Zeiten überwogen für mich und so nahm ich die Mehrarbeit noch heute gerne in Kauf. So hatte ich, was ich mir immer gewünscht hatte, beides in einem: Hund und Partner und noch dazu ein sehr gescheiter.

*

An meinem ersten richtigen Wochenende als Rüde von Madam Estelle schickte sie mich zur Erkundung in den Zwinger, den ich bisher ja nur virtuell aus dem Chat kannte. Der Zwinger war in einen Außen- und Innenzwinger geteilt, verbunden durch eine Klapptür in der Hauswand, die Madam fixieren konnte. Im Innenzwinger lag eine Matratze und ein Ball. Durch eine Lücke im Gitter konnte ein Napf herein geschoben werden. Es stand auch ein Napf mit Schokochips innen an dieser Öffnung. Eine Flasche mit Saugrohr war außen am Gitter befestigt, in der sich sicher Limonade befand. Der Zwinger war so niedrig gehalten, dass ich absolut keine Chance hatte aufzustehen.
Ich stupste die Klapptür auf und erkundete nun den Außenzwinger. Ich hatte ja schon eine Hundehütte darin gesehen. Sie war auch so eingerichtet war, wie bei unserem virtuellen Internetspiel. Auch in ihr lag eine Matratze. Die Hütte konnte man nur auf allen Vieren betreten. Sie war außerdem so eng, dass ein Drehen und Wenden kaum möglich war. Dafür war sie aber doppelt so lang wie normale Hundehütten und sie hatte an der gegenüberliegenden Schmalseite ebenfalls eine Öffnung. So kam ich ohne gymnastische Verbiegungen einfach wieder hinaus.
Ich kroch nun wieder aus der Hütte und fand auch hier am Außenzwinger eine Gittertür. Madam Estelle war inzwischen durch die Terrassentür nach draußen getreten und fuhr die Markise aus. Sie nahm meine Sachen auf ihren Arm, die sie eben auf dem Terrassentisch abgelegt hatte und kam zur Gittertür, um sie mir zu öffnen.
„Na, wie gefällt er dir?“ sprach sie mich lächelnd an.
Dann hielt sie mir meine Sachen hin und meinte nur, es sei OK, wenn ich nun Nein sagen würde, mich anziehen würde und einfach ging. Sollte ich mich jedoch fürs Bleiben entscheiden, würde sie mich nur noch einmal nach einer vierwöchigen Probezeit fragen, ob ich gehen will und wenn ich dann wieder mit Ja antworten würde, wäre mein Schicksal auf Jahre hin besiegelt.
Ich schluckte und war schon sehr hin und her gerissen, wie sollte ich mich entscheiden, was sollte ich tun? Aufstehen und einfach gehen oder bleiben und ein menschlicher Hund werden? Beziehungsweise, aufstehen und mein früheres Leben wieder aufnehmen oder bei dieser aufregenden Frau bleiben?
Sie kraulte mir meinen Nacken und meinen Kopf, anschließend beugte sie sich zu mir herunter und küsste mich auf die Wange. Sofort waren alle Zweifel vergessen und ich war wieder total verliebt in meine Herrin. Ja, mir wurde immer bewusster, dass es genau das war, was ich wollte: ein Hund sein, IHR Hund sein! So wie ich es virtuell schon lange war.
Instinktiv und leicht verlegen drehte ich mich von ihr weg, nicht ohne ein letztes Reiben an ihrem Bein, und trottete zurück durch die kleine Tür in meinen Zwinger. Ich verzog mich in die linke hintere Ecke. Madam ließ mich gewähren. Sie spürte wohl, dass ich nun meine Ruhe haben wollte, um über alles nachzudenken.
So in Gedanken versunken, ließ ich mir nochmals alles durch den Kopf gehen und überlegte, was ich nun tun würde. Aber mein Entschluss war längst klar, war längst gefasst.