Mittwoch, 11. November 2020
Chico (3)
„Hast du denn kein gutes Zwischenzeugnis, oder woran liegt’s?“ wollte ich mehr wissen.
„Naja, berühmt ist es nicht,“ druckste er mit gesenktem Kopf herum.
„Versuche es weiter, mein Junge,“ machte ich ihm Mut. „Und komm gerne an den Wochenenden regelmäßig her. Du kannst dir etwas hinzu verdienen. In den Außenanlagen gibt es immer genug zu tun! Aber du musst dann pünktlich mit dem Bus um 8:34 hier auftauchen – Samstags wie Sonntags! Verstehst du?“
„Ja, Madam Estelle,“ lächelte er zu mir hoch.
„Sollte es nicht klappen mit einem Ausbildungsvertrag, werde ich einspringen. Du bist dann offiziell mein Auszubildender für Garten- und Landschaftsbau.“
„Vielen Dank, Madam,“ sagte er nun.
„Komm mit,“ forderte ich ihn auf. „Ich zeige dir schon mal deinen Wirkungsbereich.“
Ich stand nun auf und ging zur Terrassentür. Neben der Fensterfront befand sich ein leerer Innen- und Außenzwinger mit großer Hundetür in der Wand. Beim Verlassen des Wohnzimmers wäre er beinahe mit dem Rahmen der Terrassentür kollidiert, wenn ich ihn nicht an der Schulter gefasst hätte. Er konnte den Blick nicht vom Zwinger nehmen. Gut, der Zwinger hatte eine zentrale Rolle in unserem Internet-Rollenspiel gehabt.
„Haben Sie einen Hund, Madam Estelle?“ fragte er mich, als wir auf der Terrasse standen, und sah mich treuherzig an.
Ich lächelte zurück und antwortete: „Ja, und er heißt Chico.“
„Sie meinen MICH?“ Er versteift sich.
Ich nicke ihm aufmunternd zu.
„Du wirst erst einmal deine Ausbildung beenden, dann sehen wir weiter! Bis dahin bist du jeden Abend über den Chat mein Chico.“
Der Junge gewinnt seine unbekümmerte Lockerheit allmählich zurück, während wir durch den Park hinter dem Haus gehen. Aufmerksam schaut er sich um.
Wir verlassen die Terrasse nach rechts und gehen an der Rückwand des Hauses entlang. Ich öffne eine breite Stahltüre und zeige ihm den Raum dahinter.
„Hier findest du alles, was du brauchst, um im Garten arbeiten zu können! Auch eine Werkbank für kleinere Reparaturen an den Werkzeugen. An die Elektrik gehst du mir nicht ran! Geht der Rasenmäher oder anderes Großgerät nicht mehr, kommt ein Mechaniker raus!“
„Geht klar, Madam Estelle!“
„Gut, mein Junge, dann zeige ich dir jetzt das Gelände.“
Ich schließe die Tür des Gerätekellers wieder und wir gehen geradewegs in den Park hinein.
„Die Wiese wirst du kleinhalten und im Frühjahr kahle Stellen ausbessern. Wiesenkräuter und –blumen brauchst du nicht jäten. Dies ist kein Rasenteppich, sondern eine Wiese! Du wirst nur darauf achten, dass die Gräser und Kräuter die Ränder nicht überwuchern.“
„Okay.“
„Der Busch in der Mitte braucht auch keine regelmäßige Form zu haben. Du solltest nur darauf achten, dass er nicht in den Himmel wächst.“
„Das schaffe ich wohl.“
„Gut, wir gehen weiter.“
Hinter der Wiese hatte ich mehrere Baumgruppen mit Laubbäumen anlegen lassen, aufgelockert durch niedriges Gebüsch und Beerensträucher.
„Im Herbst wirst du hier mit einem Laubsauger hindurchgehen! Aber nicht, um den Wald zu fegen! Der Sauger häckselt gleichzeitig alles und das Häckselgut verteilst du danach mit dem Rechen gleichmäßig über die Fläche.“
„Okay, Madam Estelle.“
Wir kamen zu dem künstlichen See, den ich anlegen gelassen hatte. Dahinter stand eine hohe Hecke als Sichtschutz zum Wirtschaftsweg, der meine Grundstücksgrenze bildete.
„Den See,“ sagte ich zu dem Jungen, „ wirst du von Laub, und was sonst alles an der Oberfläche schwimmt, ständig freihalten. Ab und zu musst du das Wasser durch einen Algenfilter pumpen,“ ich zeigte auf einen Deckel über einer Betonröhre, die im Boden eingelassen war, „und denke daran: wenn etwas ausfällt, sage mir Bescheid und ich rufe den Mechaniker!“