IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 02
Also erklettere ich die ‚Treppe‘ und der Kahuna folgt mir. Oben befinde ich mich in einem einzigen großen Raum. Auf einem erhöhten Platz sitzt ein alter Mann in würdevoller Haltung. Er trägt ein kunstvoll gemustertes Tuch um die Schultern. Ansonsten sind alle Anwesenden gleich gekleidet. Sie tragen den traditionellen Wickelrock Lavalava. Mir fällt auf, dass die Männer älter sind, je näher sie dem Mann mit dem Schultertuch sitzen. Alle sind über und über tätowiert. Die Tattoos sind durch Narbengewebe auf Brust und Rücken dreidimensional angelegt.
Mein Führer nähert sich dem alten Mann gemessenen Schrittes. Also benehme ich mich ebenfalls respektvoll. Im Abstand von etwa drei Metern setzt er sich vor den Mann auf den Boden und zeigt mir mit einer Geste, mich neben ihn nieder zu lassen. Dann beginnt ein Palaver im hiesigen Idiom, dem ich nicht folgen kann. Auch die anderen alten Männer beteiligen sich daran. Schließlich spricht mich der Mann, der sicher das Oberhaupt dieser Leute ist, auf Englisch an:
„Willkommen beim Stamm der Mutter Erde, das bedeutet unser Name ‚Iwipapa‘. Ich bin derzeit der Kuia –Stammesälteste-. Erzähle mir, was sich draußen auf dem Meer zugetragen hat.“
Ich erkläre ihm noch einmal, was ich auch schon dem Kahuna auf See erzählt habe. Der Kuia hört aufmerksam zu und sagt dann:
„Nichts auf der Welt geschieht, ohne eine Bedeutung für die Lebenden. Du bist zwar ein Haole – Weißer/Europäer-, aber sei trotzdem unser Manuhiri –Gast- solange du auf dieser Insel weilst. Dies ist Hinas –Mondgöttin- Wille.“
Ich neige den Kopf und antworte:
„Seid bedankt! Ich möchte gerne mehr über die traditionelle Navigation lernen, um dann später, wenn ich wieder in meiner Heimat bin, vielleicht eine zweite Expedition starten zu können. Dazu muss ich sicher einige Zeit unter euch leben.“
„Ich freue mich, dass du unser traditionelles Wissen so hoch schätzt, aber ich möchte dich auf ein Tabu hinweisen: Du wirst dich nicht den Privathäusern nähern! Dein Aktionsradius an Land bleibt auf das Männerhaus und den vorgelagerten Strand beschränkt!“ schränkt er ein.
„Ich werde das Tabu achten!“ erkläre ich ihm.
Es entspannt sich noch eine kurze Diskussion in der einheimischen Sprache. Dann wird der Poki tane –Junge- aus der Mannschaft herbeigerufen, die mich aus dem Wasser gezogen hat.
„Mateo wird dir alles zeigen. Bleibe stets in seiner Nähe, damit die Geschöpfe des Waldes dir nichts anhaben können.“
Ich nicke, und damit scheint die Versammlung aufgehoben zu sein. Die alten Männer entfernen sich einer nach dem anderen. Bald sind auch nur noch wenige der jüngeren Männer im Fale Pae’nga –Versammlungshaus-. Ich wende mich also, wie vereinbart, an Mateo. Er kann etwas englisch sprechen. Im Laufe meines Aufenthalts wird unsere Kommunikation immer besser. Vorläufig müssen noch viele Gesten die Verständigung ergänzen. Darüber erlerne ich auch einige Wörter aus ihrer Sprache.
„Wo sind all die Männer hin, die eben noch hier waren?“ frage ich Mateo.
„Sie gehen ihrer Hana –Arbeit- nach,“ antwortet er. „Wir haben zum Beispiel Handwerker, Heiler, Seeleute, Bauern. So sind wir Selbstversorger.“
„Der Kuia… Entstammt er immer derselben Familie? Ist dieses Amt erblich?“
Mateo schaut mich verdutzt an. Dann lacht er.
„Jeder Mann unseres Stammes muss einen Titel erwerben. Das geht zu Beginn durch gute Leistungen beim Erlernen des Berufes seines Vaters. Später muss er dann Mut beweisen oder etwas Wichtiges für die Allgemeinheit leisten. So erklimmt er von Titel zu Titel die Leiter an deren Ende der Titel des Kuia steht. Es gibt insgesamt siebzehn Titel bis zum höchsten Titel, den der Iwi –Stamm- zu vergeben hat.“
„Oh,“ mache ich.
An der Giebelseite des Fale Pae‘nga wird es lebendig. Dort ist eine Aussparung in der Wand. Zwei junge Männer ziehen etwas an einem Seil hoch. Dann holen sie ein aus Palmblättern geflochtenes Paket herein und bringen es vor den Kuia. Dieser öffnet es.
Während dies geschieht hat mir Mateo gezeigt wie sie hier einen Teller herstellen. Er sticht den Stiel eines Blattes durch die Oberfläche eines anderen großen Blattes. Dies wiederholt er mehrmals. Dann dreht er die Blätter um und verflechtet die Stiele miteinander. Danach wird das Werk wieder umgedreht und wir gehen zu dem Paket, das der Kuia geöffnet hat.
Der Kuia verteilt gegartes Fleisch und Gemüse aus dem Paket auf die ‚Teller‘. Dann setzen wir uns und essen. Auf die Frage, wo sich die Küche befindet, antwortet Mateo lächelnd:
„Die Speisen werden am Strand in mehreren großen Umu –Erdöfen- gegart. Dazu werden große Steine in Feuern erhitzt, die dann in Gruben versenkt werden. Darauf kommt Fleisch, Gemüse und Fisch in Schichten. Alles wird mit Palmblättern bedeckt und mit Wasser begossen, dass auf den Steinen verdampft und so die Speisen gart.“
Ich höre aufmerksam zu, dann kann ich nicht umhin zu fragen:
„Das Dampfgaren ist Aufgabe eurer Frauen?“
Mateo zieht die Stirn kraus.
„Das Thema Wahine –Frauen- berührt das Tabu, das der Kuia ausgesprochen hat!“
„Oh,“ gebe ich zur Antwort, und denke mir: ‚Die Menschen hier wollen ihre Frauen wohl vor Fremden schützen…‘
„Die jungen Männer, die sich einen Titel erkaufen wollen, kochen für die Gemeinschaft,“ erklärt Mateo.
„Aber der Stamm sitzt dann nicht zum Essen zusammen,“ stelle ich fest.
„Nein, die Familien, deren Oberhäupter du eben noch hier gesehen hast, essen in den Privathäusern. Nur die Familie des Kuia hat das Anrecht im Versammlungshaus auch zu wohnen. Als Manuhiri –Gast- gehörst du vorübergehend zur Familie des Kuia. Auch ich, da ich dir zur Seite gestellt wurde!“
„Aha,“ mache ich nun.
‚Ein Etymologe hätte eine Menge zu tun,‘ denke ich. ‚Dies ist eine völlig andere Gesellschaft, als ich sie bisher kennen gelernt habe.‘
Das Essen wird mit den Händen von den Blättern genommen, zerrupft und in den Mund gesteckt. Danach wird der ‚Teller‘ wieder auseinander genommen und die Blätter dem Wald wieder zurückgegeben, wie mir Mateo erklärt. Wir waschen uns die Hände mit Meerwasser und wischen sie am Wickelrock trocken.