Cherie - 02
An meinen Erzeuger kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Der Kerl hat Mama sitzen gelassen, als ich noch ein Baby gewesen bin. So ist Mama meine einzige Bezugsperson in dieser komplizierten Welt geworden. Wir sind ein enges Team gewesen, das sich fast blind verstanden hat.
In meinem zwölften Lebensjahr ist Mama schwer krank geworden. Die Ärzte haben einen Tumor diagnostiziert, und zwei Jahre später ist sie dann gestorben. Die Behörden haben mich in ein Heim gesteckt, aus dem ich jedoch bald abgehauen bin. Wochen später hat man mich in der nächsten Großstadt aufgegriffen und dort ins Heim verbracht.
Dieses wiederholt sich in der Folgezeit des Öfteren. Auf der Straße bin ich mit Alkohol und Drogen in Kontakt gekommen. Durch Outfit und Frisur habe ich meinen Protest gegenüber der Gesellschaft ausgedrückt. So habe ich erst mit 20 meinen Hauptschulabschluss geschafft. Es hat dann lange gedauert, bis ich eine schlecht bezahlte Arbeitsstelle auf Wochenmärkten bekommen habe. Das Amt hat mich coatchen lassen, und diese Frau hat mir ein zivileres Aussehen ans Herz gelegt, wogegen ich mich lange gewehrt habe.
Jetzt verkaufe ich Hot-Dogs auf Wochenmärkten, an fünf Tagen in der Woche. Jeden Tag in einem anderen Ort. Ich fahre dafür mit meinem Fahrrad bis fünfzehn Kilometer von meinem Appartement zur Arbeit. Mein Appartement teile ich mit einer allerliebsten kleinen Mopsdame, namens Taps. Seit zwei Jahren habe ich einen Freund, der ab und zu eine Nacht oder ein Wochenende bei mir ist. Er ist sehr lieb zu mir, ich fühle mich verstanden bis auf die Phasen, wenn er wieder einmal zuviel trinkt. Dann hat er sich nicht unter Kontrolle und kann gewalttätig werden, während ich den Ausstieg aus Alkohol und Drogen geschafft habe.

*

Dieter zeigt mir an einem unserer Treffen ein besonderes Immobilienangebot in einer überregionalen Zeitung. Dort wird ein Bauernhof zum Kauf angeboten mit viel Weideland. Wir fahren gut dreihundert Kilometer zur Besichtigung. Das Anwesen ist ein „Einödhof“. Es liegt außerhalb in einer dünn besiedelten Gegend und ist zum reinen Grundstückspreis zu haben. Er unterschreibt einen Vorvertrag, damit ihm niemand anders das Anwesen wegschnappt. Zuhause will er sich mit seiner Bank und einem Architektenbüro zusammensetzen.
„Was hältst du davon?“ fragt er mich auf der Heimfahrt.
„Das Haus ist baufällig, die Weiden verwildert…“ antworte ich zurückhaltend. „Da musst du wohl noch viel Geld ’reinstecken!“
„An drei Seiten drum herum liegen andere Bauernhöfe. Denen biete ich den Großteil der Ländereien zur Pacht an. Damit haben wir regelmäßige Einkünfte, die zwar nicht sehr hoch sind, aber das Stück Land zum Wald hin bepflanze ich mit Bäumen und verkaufe das Holz. Die Gebäude reiße ich ab und baue neu. Vielleicht kann ich ein Großteil der neuen Wohnfläche als Ferienwohnungen vermieten!“
„Und unser Faible?“
„Das Anwesen ist abgelegen. Wenn alles steht, können wir ungestört unserem Faible nachgehen.“
„Da bin ich gespannt, Dieter! Aber wie soll ich zu dir kommen? Vierhundert Kilometer pro Strecke sind schon anstrengend!“
„Du kannst an den Wochenenden hier wohnen, also vor der Heimreise immer eine Nacht entspannt schlafen – oder du ziehst auf dem Anwesen in eine eigene Wohnung…“ antwortet Dieter und schaut mich lächelnd von der Seite an.
Ich schaue ihn lachend an:
„Dann muss ich mir im Umkreis des Anwesens eine neue Arbeit suchen!“
Er nickt und meint:
„Ja, das musst du dann wohl. Aber überstürze nichts! Komm erst einmal an den Wochenenden, während du dich bewirbst. Kündige deinen jetzigen Job erst, wenn du einen neuen gefunden hast! Solltest du nichts finden und mein Holzwirtschaftsbetrieb ist angelaufen und macht sich gut, dann steigst du als Mitarbeiter oder Teilhaber bei mir ein. Na, was meinst du?“
„Joah…“ gebe ich zurück.

*

Ich weiß nicht mehr weiter. Gestern habe ich meinen Freund aus der Wohnung geworfen. Wieder einmal ist er betrunken gewesen und hat mich erniedrigt. Tapsy hat ihn daraufhin gebissen und er hat nach ihr getreten und Möbel kaputt gemacht. Ich weiß selbst nicht mehr, wie ich geschafft habe, ihn vor die Tür zu setzen. Ohne Tapsy wäre es mir sicher nicht gelungen. Der Kerl soll mir gestohlen bleiben! Aber was mache ich jetzt bloß? So ganz allein…
Für’s Erste habe ich ja meine Arbeit. Die bringt nicht viel ein, aber sie lenkt mich ab. Der Umgang mit den Leuten tut mir gut. Und schließlich ist da noch Tapsy, meine große Beschützerin!
Heute ist wieder so ein Gedränge auf dem Markt. Gestern war ein Feiertag. Auch ich brauchte nicht arbeiten. Und die Leute kommen mir so vor, als hätten sie all ihre Vorräte zuhause aufgebraucht.
Ein Mann, nicht viel älter als ich weicht in diesem Moment einem schwer bepackten Ehepaar aus und gerät dabei an meinen Reklameständer, der mit Getöse umfällt. Nach einer Schrecksekunde beugt er sich nach dem Teil. Da ich hinzu gesprungen bin, geraten wir aneinander. Ich bin zu überrascht, um gleich loszuschimpfen. Als ich in seine verlegen lächelnden Augen schaue, weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll.
„Entschuldigen Sie vielmals, junge Frau,“ lässt er sich vernehmen. „Darf ich es übernehmen, das Teil wieder hin zu stellen?“
Ohne ein weiteres Wort führt er sein Vorhaben aus und ich lasse ihn stumm gewähren.
„Darf ich Sie auf den Schreck einladen?“ sagt er nach getaner Arbeit. „Ist es Ihnen Recht, nach Marktschluss mit mir das Restaurant dort hinten zu besuchen?“
Er zeigt quer über den Marktplatz. Ich nicke stumm. Dann grüßt er und ist im Strom der Leute verschwunden. Ich runzele die Stirn. Was war das denn für eine Begegnung gerade? Ob er wirklich sein Wort hält und zu Marktschluss mit mir in das Restaurant geht? Alleine würde ich dort niemals hinein gehen. Ich bin Schnellrestaurants und Buden gewohnt.
Also hole ich tief Luft und kümmere mich wieder um die Marktbesucher.