Donnerstag, 4. Juni 2020
Cherie - 02
An meinen Erzeuger kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Der Kerl hat Mama sitzen gelassen, als ich noch ein Baby gewesen bin. So ist Mama meine einzige Bezugsperson in dieser komplizierten Welt geworden. Wir sind ein enges Team gewesen, das sich fast blind verstanden hat.
In meinem zwölften Lebensjahr ist Mama schwer krank geworden. Die Ärzte haben einen Tumor diagnostiziert, und zwei Jahre später ist sie dann gestorben. Die Behörden haben mich in ein Heim gesteckt, aus dem ich jedoch bald abgehauen bin. Wochen später hat man mich in der nächsten Großstadt aufgegriffen und dort ins Heim verbracht.
Dieses wiederholt sich in der Folgezeit des Öfteren. Auf der Straße bin ich mit Alkohol und Drogen in Kontakt gekommen. Durch Outfit und Frisur habe ich meinen Protest gegenüber der Gesellschaft ausgedrückt. So habe ich erst mit 20 meinen Hauptschulabschluss geschafft. Es hat dann lange gedauert, bis ich eine schlecht bezahlte Arbeitsstelle auf Wochenmärkten bekommen habe. Das Amt hat mich coatchen lassen, und diese Frau hat mir ein zivileres Aussehen ans Herz gelegt, wogegen ich mich lange gewehrt habe.
Jetzt verkaufe ich Hot-Dogs auf Wochenmärkten, an fünf Tagen in der Woche. Jeden Tag in einem anderen Ort. Ich fahre dafür mit meinem Fahrrad bis fünfzehn Kilometer von meinem Appartement zur Arbeit. Mein Appartement teile ich mit einer allerliebsten kleinen Mopsdame, namens Taps. Seit zwei Jahren habe ich einen Freund, der ab und zu eine Nacht oder ein Wochenende bei mir ist. Er ist sehr lieb zu mir, ich fühle mich verstanden bis auf die Phasen, wenn er wieder einmal zuviel trinkt. Dann hat er sich nicht unter Kontrolle und kann gewalttätig werden, während ich den Ausstieg aus Alkohol und Drogen geschafft habe.

*

Dieter zeigt mir an einem unserer Treffen ein besonderes Immobilienangebot in einer überregionalen Zeitung. Dort wird ein Bauernhof zum Kauf angeboten mit viel Weideland. Wir fahren gut dreihundert Kilometer zur Besichtigung. Das Anwesen ist ein „Einödhof“. Es liegt außerhalb in einer dünn besiedelten Gegend und ist zum reinen Grundstückspreis zu haben. Er unterschreibt einen Vorvertrag, damit ihm niemand anders das Anwesen wegschnappt. Zuhause will er sich mit seiner Bank und einem Architektenbüro zusammensetzen.
„Was hältst du davon?“ fragt er mich auf der Heimfahrt.
„Das Haus ist baufällig, die Weiden verwildert…“ antworte ich zurückhaltend. „Da musst du wohl noch viel Geld ’reinstecken!“
„An drei Seiten drum herum liegen andere Bauernhöfe. Denen biete ich den Großteil der Ländereien zur Pacht an. Damit haben wir regelmäßige Einkünfte, die zwar nicht sehr hoch sind, aber das Stück Land zum Wald hin bepflanze ich mit Bäumen und verkaufe das Holz. Die Gebäude reiße ich ab und baue neu. Vielleicht kann ich ein Großteil der neuen Wohnfläche als Ferienwohnungen vermieten!“
„Und unser Faible?“
„Das Anwesen ist abgelegen. Wenn alles steht, können wir ungestört unserem Faible nachgehen.“
„Da bin ich gespannt, Dieter! Aber wie soll ich zu dir kommen? Vierhundert Kilometer pro Strecke sind schon anstrengend!“
„Du kannst an den Wochenenden hier wohnen, also vor der Heimreise immer eine Nacht entspannt schlafen – oder du ziehst auf dem Anwesen in eine eigene Wohnung…“ antwortet Dieter und schaut mich lächelnd von der Seite an.
Ich schaue ihn lachend an:
„Dann muss ich mir im Umkreis des Anwesens eine neue Arbeit suchen!“
Er nickt und meint:
„Ja, das musst du dann wohl. Aber überstürze nichts! Komm erst einmal an den Wochenenden, während du dich bewirbst. Kündige deinen jetzigen Job erst, wenn du einen neuen gefunden hast! Solltest du nichts finden und mein Holzwirtschaftsbetrieb ist angelaufen und macht sich gut, dann steigst du als Mitarbeiter oder Teilhaber bei mir ein. Na, was meinst du?“
„Joah…“ gebe ich zurück.

*

Ich weiß nicht mehr weiter. Gestern habe ich meinen Freund aus der Wohnung geworfen. Wieder einmal ist er betrunken gewesen und hat mich erniedrigt. Tapsy hat ihn daraufhin gebissen und er hat nach ihr getreten und Möbel kaputt gemacht. Ich weiß selbst nicht mehr, wie ich geschafft habe, ihn vor die Tür zu setzen. Ohne Tapsy wäre es mir sicher nicht gelungen. Der Kerl soll mir gestohlen bleiben! Aber was mache ich jetzt bloß? So ganz allein…
Für’s Erste habe ich ja meine Arbeit. Die bringt nicht viel ein, aber sie lenkt mich ab. Der Umgang mit den Leuten tut mir gut. Und schließlich ist da noch Tapsy, meine große Beschützerin!
Heute ist wieder so ein Gedränge auf dem Markt. Gestern war ein Feiertag. Auch ich brauchte nicht arbeiten. Und die Leute kommen mir so vor, als hätten sie all ihre Vorräte zuhause aufgebraucht.
Ein Mann, nicht viel älter als ich weicht in diesem Moment einem schwer bepackten Ehepaar aus und gerät dabei an meinen Reklameständer, der mit Getöse umfällt. Nach einer Schrecksekunde beugt er sich nach dem Teil. Da ich hinzu gesprungen bin, geraten wir aneinander. Ich bin zu überrascht, um gleich loszuschimpfen. Als ich in seine verlegen lächelnden Augen schaue, weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll.
„Entschuldigen Sie vielmals, junge Frau,“ lässt er sich vernehmen. „Darf ich es übernehmen, das Teil wieder hin zu stellen?“
Ohne ein weiteres Wort führt er sein Vorhaben aus und ich lasse ihn stumm gewähren.
„Darf ich Sie auf den Schreck einladen?“ sagt er nach getaner Arbeit. „Ist es Ihnen Recht, nach Marktschluss mit mir das Restaurant dort hinten zu besuchen?“
Er zeigt quer über den Marktplatz. Ich nicke stumm. Dann grüßt er und ist im Strom der Leute verschwunden. Ich runzele die Stirn. Was war das denn für eine Begegnung gerade? Ob er wirklich sein Wort hält und zu Marktschluss mit mir in das Restaurant geht? Alleine würde ich dort niemals hinein gehen. Ich bin Schnellrestaurants und Buden gewohnt.
Also hole ich tief Luft und kümmere mich wieder um die Marktbesucher.



Cherie - 01
Meine Eltern haben eine Golden Retriever Hündin beinahe seit ich denken kann. Kessi wird meine liebste Spielgefährtin während fast meiner ganzen Schulzeit. Oft genug habe ich mich mit ihr auf der Wiese hinter dem Haus gewälzt. Wenn ich mich nach den Hausaufgaben auf meine Couch zurückziehe und in meine Musikwelt eintauche indem ich mir den Kopfhörer über die Ohren stülpe, liegt sie zumeist neben mir zu meinen Füßen.
Hin und wieder stelle ich mir vor, wie sie zu sein. Sie hat es gut. Ihre Grundbedürfnisse werden gestillt. Alltagsprobleme gibt es für sie nicht. Mir dagegen sitzen meine Eltern im Nacken, dass ich gute Noten nachhause bringe. Lernen, lernen, lernen…
Zufällig stoße ich im Internet auf eine Community von Leuten, die so leben wollen wie Tiere. Neugierig melde ich mich an und lese ihre Beiträge durch. Fast alle „Tiere“, die einen Bezug zum Menschen haben, sind dort vertreten. Da gibt es Milchkühe, Mastschweine, Kutsch- und Rückepferde, Katzen und Hunde. Aber auch exotische Vertreter des Tierreiches fehlen nicht, wie zum Beispiel Strauße, Phönixe, Delfine.
Dazwischen tauchen bald auch Pferdewirte, Bauern, Hundeführer und andere auf. Solche Paarungen, wie Bauern und Milchkühe oder Ponys und Pferdewirte werden von den Community-Mitgliedern gesucht, also schreibe ich bald auch einen Beitrag, indem ich eine Hundeführerin für mich suche. Lange passiert nichts, dann bekomme ich Kontakt zu einem Hundeführer, der allerdings eine weibliche Doggie sucht. Wir freunden uns an, um gegenseitig einen Gesprächspartner zu haben. Zufällig wohnen wir auch nicht zu weit auseinander.
Schließlich wird in der Community ein Termin für einen Stammtisch bekannt gegeben. Er soll in einer öffentlichen Gaststätte stattfinden und dem persönlichen Kennenlernen dienen. Ich melde mich bei der Organisatorin an und mache unglücklicherweise die Bemerkung, dass ich noch neu und unerfahren bin. Sie macht mir den Vorschlag bis zum Termin in vier Wochen an den Wochenenden zu ihr zu kommen und ihr Doggie zu spielen. Sie will mir die Grundbegriffe des Petplay beibringen, was mich vierhundert Euro kosten würde.
Diese letzte Bemerkung lässt mich empört die Verbindung trennen. Ich erzähle meinem Bekannten davon und er macht mir den Vorschlag, mich mit ihm zu treffen ohne jegliche Kosten. Auch würde er mir gegenüber niemals das „Herrchen“ heraushängen. Neugierig geworden, mache ich mich am folgenden Samstag auf den Weg. Wir haben uns an einem Platz im Wohnort meines Bekannten verabredet. Dort angekommen, erkenne ich einen größeren Rasenplatz mit zwei Bauminseln, einer Bushaltestelle und einem kleinen Parkplatz.
Ich fahre auf den Parkplatz und sehe einen Mann auf mich zu kommen. Er begrüßt mich:
„Hallo, sind Sie Herr Tiefenbach?“
„Jaaa. Sie sind Herr Mattes?“
„Der bin ich. Du hast mir deinen Wagen ja beschrieben. Übrigens, ein schöner Wagen,“ lächelt er.
Ich neige den Kopf etwas und lächele zurück.
„Was hast du vor?“
„Ich denke, wir setzen uns dort in die Bäckerei und trinken einen Kaffee. Dabei können wir uns etwas unterhalten.“
Er zeigt auf ein Ladengeschäft am Rande des Platzes. Ich nickte und wir gehen dorthin, setzen uns an einen Tisch auf dem Bürgersteig und beginnen eine Unterhaltung über unser Faible. Dieter, wie Herr Mattes mit Vornamen heißt, macht mir nach einiger Zeit den Vorschlag, mit ihm in den Nachbarort zu einer Hundeschule zu fahren.
Gesagt, getan. Da Dieter selber kein Auto hat, zeigt er mir vom Beifahrersitz aus, wie ich fahren muss. Dort schauen wir dem Training zu. Gleich nebenan befindet sich ein Tierheim. Nachdem die Stunde mit den Privatleuten und ihren Hunden beendet ist, kommen Tierheim-Mitarbeiter mit Hunden herüber und Dieter macht mir den Vorschlag mit einem Hund aus dem Tierheim eine Trainingseinheit mitzumachen.
Die Tierheim-Mitarbeiter kennen Dieter anscheinend. Bald führen wir beide ebenfalls einen Hund an der Leine. Der Nachmittag geht wie im Flug vorbei. Während ich Dieter nachhause bringe, fragt er mich:
„Du hast eben den Part des Hundeführers kennengelernt. Wer einen Hund besitzt, trägt die Verantwortung für das Lebewesen. Das darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen… Aber das Tier gibt Einem so viel zurück! Diese Treue, diese Hingabe und Gehorsam, dieses Vertrauen findest du in kaum einer anderen Konstellation…“
„Ja?“
„Ich frage jetzt natürlich etwas eigennützig: Stell dir mal vor, du würdest eine menschliche Hündin, eine Doggie, genauso verantwortungsbewusst führen… Würde dir das nicht auch gefallen? Oder wolltest du weiter auf ein Frauchen für dich warten?“
„Es sind ja bestimmt nicht alle wie die letzte…“ versuche ich auszuweichen.
„Viele Doggies warten Jahre bis sich die richtige Konstellation ergibt. Der Weg dahin ist mit vielen Enttäuschungen gepflastert. – Bist du eher anpassungswillig oder eher eigenwillig in deiner Doggie-Rolle?“
„Wie meinst du?“
„Nun, wenn du als Doggie solch ein Training mitmachen sollst – musst du gezwungen werden, das Training durchzuhalten, oder machst du engagiert mit?“
„Hm, eher so dazwischen…“
„Und jetzt die Rolle des Hundeführers. Würde es dir Freude machen, eine Doggie zu trainieren?“
„Joah…“
In der Zwischenzeit sind wir an Dieters Wohnung angekommen. Er verabschiedet sich von mir mit der Empfehlung, einmal darüber nachzudenken.
Schon auf der Heimfahrt gerate ich ins Grübeln. Mit einer weiblichen Doggie so liebevoll zärtlich umzugehen, wie mit Kessie in meiner Kindheit – und sie gleichzeitig konsequent führen. Den Unbill des Alltags von ihr fernhalten und meine Entscheidungen daran zu messen, ob sie ihrem Wohl dienen. Aber wie soll das gehen?

*