Cherie - 01
Meine Eltern haben eine Golden Retriever Hündin beinahe seit ich denken kann. Kessi wird meine liebste Spielgefährtin während fast meiner ganzen Schulzeit. Oft genug habe ich mich mit ihr auf der Wiese hinter dem Haus gewälzt. Wenn ich mich nach den Hausaufgaben auf meine Couch zurückziehe und in meine Musikwelt eintauche indem ich mir den Kopfhörer über die Ohren stülpe, liegt sie zumeist neben mir zu meinen Füßen.
Hin und wieder stelle ich mir vor, wie sie zu sein. Sie hat es gut. Ihre Grundbedürfnisse werden gestillt. Alltagsprobleme gibt es für sie nicht. Mir dagegen sitzen meine Eltern im Nacken, dass ich gute Noten nachhause bringe. Lernen, lernen, lernen…
Zufällig stoße ich im Internet auf eine Community von Leuten, die so leben wollen wie Tiere. Neugierig melde ich mich an und lese ihre Beiträge durch. Fast alle „Tiere“, die einen Bezug zum Menschen haben, sind dort vertreten. Da gibt es Milchkühe, Mastschweine, Kutsch- und Rückepferde, Katzen und Hunde. Aber auch exotische Vertreter des Tierreiches fehlen nicht, wie zum Beispiel Strauße, Phönixe, Delfine.
Dazwischen tauchen bald auch Pferdewirte, Bauern, Hundeführer und andere auf. Solche Paarungen, wie Bauern und Milchkühe oder Ponys und Pferdewirte werden von den Community-Mitgliedern gesucht, also schreibe ich bald auch einen Beitrag, indem ich eine Hundeführerin für mich suche. Lange passiert nichts, dann bekomme ich Kontakt zu einem Hundeführer, der allerdings eine weibliche Doggie sucht. Wir freunden uns an, um gegenseitig einen Gesprächspartner zu haben. Zufällig wohnen wir auch nicht zu weit auseinander.
Schließlich wird in der Community ein Termin für einen Stammtisch bekannt gegeben. Er soll in einer öffentlichen Gaststätte stattfinden und dem persönlichen Kennenlernen dienen. Ich melde mich bei der Organisatorin an und mache unglücklicherweise die Bemerkung, dass ich noch neu und unerfahren bin. Sie macht mir den Vorschlag bis zum Termin in vier Wochen an den Wochenenden zu ihr zu kommen und ihr Doggie zu spielen. Sie will mir die Grundbegriffe des Petplay beibringen, was mich vierhundert Euro kosten würde.
Diese letzte Bemerkung lässt mich empört die Verbindung trennen. Ich erzähle meinem Bekannten davon und er macht mir den Vorschlag, mich mit ihm zu treffen ohne jegliche Kosten. Auch würde er mir gegenüber niemals das „Herrchen“ heraushängen. Neugierig geworden, mache ich mich am folgenden Samstag auf den Weg. Wir haben uns an einem Platz im Wohnort meines Bekannten verabredet. Dort angekommen, erkenne ich einen größeren Rasenplatz mit zwei Bauminseln, einer Bushaltestelle und einem kleinen Parkplatz.
Ich fahre auf den Parkplatz und sehe einen Mann auf mich zu kommen. Er begrüßt mich:
„Hallo, sind Sie Herr Tiefenbach?“
„Jaaa. Sie sind Herr Mattes?“
„Der bin ich. Du hast mir deinen Wagen ja beschrieben. Übrigens, ein schöner Wagen,“ lächelt er.
Ich neige den Kopf etwas und lächele zurück.
„Was hast du vor?“
„Ich denke, wir setzen uns dort in die Bäckerei und trinken einen Kaffee. Dabei können wir uns etwas unterhalten.“
Er zeigt auf ein Ladengeschäft am Rande des Platzes. Ich nickte und wir gehen dorthin, setzen uns an einen Tisch auf dem Bürgersteig und beginnen eine Unterhaltung über unser Faible. Dieter, wie Herr Mattes mit Vornamen heißt, macht mir nach einiger Zeit den Vorschlag, mit ihm in den Nachbarort zu einer Hundeschule zu fahren.
Gesagt, getan. Da Dieter selber kein Auto hat, zeigt er mir vom Beifahrersitz aus, wie ich fahren muss. Dort schauen wir dem Training zu. Gleich nebenan befindet sich ein Tierheim. Nachdem die Stunde mit den Privatleuten und ihren Hunden beendet ist, kommen Tierheim-Mitarbeiter mit Hunden herüber und Dieter macht mir den Vorschlag mit einem Hund aus dem Tierheim eine Trainingseinheit mitzumachen.
Die Tierheim-Mitarbeiter kennen Dieter anscheinend. Bald führen wir beide ebenfalls einen Hund an der Leine. Der Nachmittag geht wie im Flug vorbei. Während ich Dieter nachhause bringe, fragt er mich:
„Du hast eben den Part des Hundeführers kennengelernt. Wer einen Hund besitzt, trägt die Verantwortung für das Lebewesen. Das darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen… Aber das Tier gibt Einem so viel zurück! Diese Treue, diese Hingabe und Gehorsam, dieses Vertrauen findest du in kaum einer anderen Konstellation…“
„Ja?“
„Ich frage jetzt natürlich etwas eigennützig: Stell dir mal vor, du würdest eine menschliche Hündin, eine Doggie, genauso verantwortungsbewusst führen… Würde dir das nicht auch gefallen? Oder wolltest du weiter auf ein Frauchen für dich warten?“
„Es sind ja bestimmt nicht alle wie die letzte…“ versuche ich auszuweichen.
„Viele Doggies warten Jahre bis sich die richtige Konstellation ergibt. Der Weg dahin ist mit vielen Enttäuschungen gepflastert. – Bist du eher anpassungswillig oder eher eigenwillig in deiner Doggie-Rolle?“
„Wie meinst du?“
„Nun, wenn du als Doggie solch ein Training mitmachen sollst – musst du gezwungen werden, das Training durchzuhalten, oder machst du engagiert mit?“
„Hm, eher so dazwischen…“
„Und jetzt die Rolle des Hundeführers. Würde es dir Freude machen, eine Doggie zu trainieren?“
„Joah…“
In der Zwischenzeit sind wir an Dieters Wohnung angekommen. Er verabschiedet sich von mir mit der Empfehlung, einmal darüber nachzudenken.
Schon auf der Heimfahrt gerate ich ins Grübeln. Mit einer weiblichen Doggie so liebevoll zärtlich umzugehen, wie mit Kessie in meiner Kindheit – und sie gleichzeitig konsequent führen. Den Unbill des Alltags von ihr fernhalten und meine Entscheidungen daran zu messen, ob sie ihrem Wohl dienen. Aber wie soll das gehen?

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