Sonntag, 7. Juni 2020
Cherie - 08
„Was ist eigentlich, wenn das enge Verhältnis erlahmt, das zwischen Mutter und Kind oder Mensch und Tier besteht?“ platzt es plötzlich aus ihr heraus.
„Wir müssen frühzeitig die Anzeichen erkennen und gegensteuern, Cherie! Du bist das wichtigste Lebewesen auf diesem Planeten für mich! Ich hoffe, ich für dich auch?“
Sie beugt sich zu mir herüber und haucht mir einen Kuss auf die Wange.
„Du für mich auch! Ich hoffe, dass wir meine Mama jetzt öfter besuchen. Vielleicht einmal im Jahr? Wie willst du gegensteuern?“
„Die Entfernung ist groß von zuhause. Einmal im Jahr muss aber machbar sein! Darauf achte ich! – Wie will ich unsere Beziehung so innig erhalten?
Es gibt eine Reihe negativer Einflüsse, die man kennen muss: erstens, wenn wir uns des anderen nicht mehr bewusst sind, wenn uns der andere egal zu werden beginnt. Zweitens das unstillbare Verlangen nach mehr. Wenn uns der andere nicht mehr genug ist. Drittens, wenn das Mitgefühl schwindet und der Selbstsucht Platz macht. Viertens die Angst vor der Vergänglichkeit, vor dem Ende des Mitgefühls. Fünftens, wenn die Gefühle nicht mehr bestimmen, sondern das körperliche überhand nimmt. Sechstens, nur noch zu glauben, was man sieht. Wenn also die Rationalität mehr Gewicht bekommt als die Emotionalität. Und siebtens die Besserwisserei, die verblendete Selbstüberzeugung, der Fanatismus.“
„Das ist ein großes Programm! Ich weiß nicht, ob je ein Mensch dagegen gefeit ist…“
„Wir sind zu zweit. Siehst du Anzeichen bei mir, mache mich darauf aufmerksam, Cherie! Genauso will auch ich auf Anzeichen bei dir achten!“
Die restliche Fahrt ist Lena still geworden und hängt ihren Gedanken nach. Ich lasse sie gerne in Ruhe den heutigen Tag verarbeiten. Wir übernachten in einem Gasthof mit Fremdenzimmer, um anderentags den Rest des Events mitmachen zu können und am Nachmittag nachhause zu fahren. Ich denke, das reicht für’s Kennenlernen des Petplay.

*

Paul hat mir eine Riesenfreude gemacht, dass er mit mir meine Heimat und damit Mamas Grab besucht hat. Ich kann ihm nicht genug danken dafür. Er will jetzt sogar regelmäßig mit mir dorthin fahren!
Statt der zwei Tage, die das Petplayer-Event bei Hamburg eigentlich dauert, schnuppern wir nun nur kurz hinein, damit ich einen Eindruck von seinem Faible bekomme.
Der Navi leitet uns zu einem Bauernhof. Der Hamburger Stammtisch der Petplayer hat den Hof und die Fremdenzimmer dort für ein Wochenende angemietet. Hätten wir uns für eins der Zimmer angemeldet, hätten wir einen Beitrag zahlen müssen.
Als wir am Ziel ankommen, sehen wir eine Reihe von Fahrzeugen am Wegrand stehen. Paul parkt unseren Wagen dazu. Dann gehen wir auf die Gebäude zu.
„Hallo, darf ich fragen, was sie wünschen?“ werden wir angesprochen.
„Hallo,“ antwortet Paul. „Ich habe in der Petplay-Community von dem Event gelesen, und wollte meiner Lebensgefährtin ermöglichen sich einmal anzuschauen, was da so abgeht.“
„Ah, Sie sind also Petplayer. Welches Tier?“
„Ich bin Besitzer und meine Lebensgefährtin wäre die Doggie, wenn es ihr zusagt.“
„Kommen Sie erst einmal herein,“ meint der Mann.
Er macht Platz und wir betreten das Gebäude.
„Die Pets, die schon seit gestern hier sind, haben sich oben auf den Zimmern umgezogen. Brauchen Sie eine ruhige Ecke, um sich zurecht zu machen?“ fragt er.
„Nein,“ lehnt Paul höflich ab. „Wir bleiben nicht lange. Es ist ihr erstes Mal. Sie möchte sicher nur schauen. Vielleicht ergibt sich ein kurzes Gespräch mit einem anderen Teilnehmer, dann fahren wir wieder. Beim nächsten Mal sind wir dann sicher länger da.“
Der Mann nickt, lächelt freundlich und weist uns zum Hinterausgang. Wir verlassen das Bauernhaus dort wieder und befinden uns in einem Hof, der rechts und links von Schuppen und Vorratsgebäuden begrenzt wird. Hier stehen einige Tische. Von der angrenzenden Wiese ertönen Lachen und Anfeuerungsrufe. Wir nähern uns den Geräuschen und sehen, dass auf der Wiese ein Parcours abgesteckt ist. Eine Person auf zwei Beinen und eine Person auf vier Beinen bewegen sich schnell über den Parcours, wobei die Person auf vier Beinen von der anderen Person an einer Leine geführt wird. Beide Personen haben Lederkleidung an. Die Person auf vier Beinen dazu noch eine Maske, die einen Hundekopf darstellt. Andere Personen in Leder oder Latex stehen am Rand. Etwa die Hälfte davon trägt verschiedene Masken und einigen hängt ein Schweif hinten herunter.
Erstaunt und stumm schaue ich dem Treiben zu.
Dann gehen die Anwesenden Paar für Paar zu den Tischen im Hof und bestellen etwas zu trinken. Paul geht mit mir zu den Leuten und er fragt ein Paar, ob wir uns dazu setzen dürfen. Der Mann macht eine einladende Handbewegung und die Frau lächelt uns an. Sie hat gerade ihre Maske abgelegt.
„Sind Sie neu hier?“ beginnt der Mann kurz darauf ein Gespräch.
Paul geht höflich darauf ein und sagt:
„Ja, wir waren noch nicht hier. Ich heiße übrigens Paul Tiefenbach und das ist meine Lebensgefährtin Lena Fischer. Ich bin als „Peterle“ seit Jahren in der Petplay-Community aktiv. Lena ist das alles noch ziemlich neu. Darum habe ich sie eingeladen, einmal zuzusehen und sich eine eigene Meinung zu bilden.“
„Ah, ich bin Peter Balder und das ist meine Doggie Biggi,“ antwortet der Mann.
Wir wechseln noch ein paar Worte Smalltalk miteinander, dann stehen die Beiden wieder auf und gehen zur Wiese zurück. Die Frage, ob wir sie begleiten mögen, bejaht Paul und so folgen wir den Beiden.
Herr Balder verändert mit anderen Anwesenden den Parcours, während Biggi abwartend am Rand stehenbleibt.
„Dein Freund oder Mann kennt sich hier ja ziemlich au,“ sage ich, an Biggi gerichtet.
„Wir sind nicht zusammen,“ korrigiert Biggi. „Ich treffe mich mit Peter nur hin und wieder zu solchen Sessions, wie diese hier. Wir verbringen ein Wochenende als Hündin und Herr, dann geht jeder wieder seinem eigenen Tagesablauf nach.“
„Oh, also wohnt ihr noch nicht einmal zusammen?“



Cherie - 07
Als ich Lena davon erzähle ist sie traurig. Sie sackt förmlich in sich zusammen. Ich ziehe sie an mich, gebe ihr so das Gefühl, dass ich sie stütze und sage:
„Wir schaffen das, Cherie. Die Ausgaben kann ich auch alleine stemmen. Du kümmerst dich dann einfach um den Haushalt, wenn du wieder ganz auf dem Damm bist.“
Sie schaut mich lächelnd an, umarmt mich und gibt mir einen Kuss, den ich gerne erwidere.

*

Die Dauer ihrer Krankschreibung ist fast zu Ende. Ich sitze im Wohnzimmer an meinem Schreibtisch und mache schnell noch die Korrespondenz, während Lena in der Küche etwas Besonderes zaubern will, wie sie mir beim Nachhause kommen gesagt hat.
Da höre ich ein Poltern und Klirren. Ich springe auf, dass der Schreibtischstuhl umkippt und Taps aufheult. Schnell bin ich in der Küche und sehe Lena zuckend am Boden liegen. Ich versuche sie anzusprechen, doch sie reagiert nicht. Ich rufe sofort den Notarzt und beschreibe ihm kurz das Bild, das sich mir bietet. Er sagt, sie wären gleich da, ich solle versuchen, Lena etwas zwischen die Zähne zu schieben. Dumm dreinschauend tue ich, wie mir geheißen.
Dann klingelt es auch schon an der Tür. Eine kurze Untersuchung, dann schnallt man Lena auf die Trage und verlässt unsere Wohnung. Ich kann Taps gerade noch zurückhalten, bevor sie ebenfalls die Wohnung verlässt – den Männern hinterher. Die Hündin auf den Arm nehmend, frage ich noch, wo sie Lena hinbringen. Der Notarzt nennt mir ein anderes Krankenhaus als das, aus dem sie gerade entlassen wurde und dort würde sie auf die neurologische Station kommen.
Dort sagt man mir, dass sie einen epileptischen Anfall erlitten hat und man sie auf ein Medikament einstellt, das sie von nun an täglich nehmen soll. Eine Woche bleibt sie dafür in der Klinik.
Ich habe mir zwei Wochen Urlaub genommen. In der Petplayer-Community im Internet ist ein Event angekündigt worden, das bei Hamburg stattfinden soll. Der dortige Stammtisch hat die Federführung. Lena weiß davon. Ich habe ihr frühzeitig davon erzählt und ihr angeboten, sich die Sache einmal anzuschauen. Neugierig hat sie zugesagt.
Durch die gesundheitliche Sache wäre der Termin für uns beinahe in die Hose gegangen, denn ohne Lena wäre ich nicht gefahren. Nun klappt es doch noch.
Ich kaufe zwei Transportkäfige und entferne mit einer Zange zwei Schmalseiten. Dann verbinde ich beide Käfige miteinander, so dass ein langer Käfig entsteht. Den Boden polstere ich mit mehreren Decken aus und schiebe ihn in meinen Kombi. Der Wagen hat getönte Seitenscheiben. Niemand kann also von draußen herein schauen. Damit der lange Käfig auf die Ladefläche passt, lege ich auch noch die Rücksitze um.
Zwei Tage nachdem Lena aus der Klinik entlassen wurde, fahren wir los. Anfangs sitzt Lena noch neben mir bis wir kurz vor Hamburg sind. Dann fahre ich auf einen Feldweg und Lena kriecht witzelnd rücklings in den Käfig. Zusätzlich bekommt sie von mir noch eine schwarze Augenbinde.
„Lass die Binde bitte auf bis ich sage, dass du sie abnehmen kannst,“ sage ich zu ihr und lächele sie an.
„Ist das hier eine Entführung?“ witzelt sie zurück.
Ich streichele ihr noch einmal kurz über den Kopf und schließe dann das Türgitter des Käfigs. Danach fahre ich wieder los. Mein Weg führt jedoch an Hamburg vorbei, weiter nach Schleswig-Holstein hinein.
Vor einer Dorfkirche mit einem Friedhof daneben halte ich an. Inzwischen ist es Spätnachmittag geworden. Ich drehe den Wagen, so dass die Front aus dem Weg herausschaut. Danach gehe ich nach hinten, öffne die Heckklappe und die Käfigtüre.
„Sag mal, wo hast du mich hier hin gebracht?“ sind ihre ersten Worte, während sie sich hoch stemmt und die Knie anzieht.
Ich schiebe ihr die Augenbinde in die Stirn und sie schaut sich um.
„Wo sind wir hier?“ fragt sie und schaut mich mit großen Augen an.
Sie weiß die Antwort schon, denn diese Umgebung ist ihr aus ihrer Kindheit bekannt.
„Ich habe mir gedacht, dass wir beide deine Mutter besuchen sollten, wenn sich die Gelegenheit ergibt,“ sage ich deshalb nur.
Inzwischen ist sie aus dem Käfig gerutscht und sitzt auf der Ladekante. Nun springt sie auf und hängt Sekunden später an meinem Hals, lachend und weinend gleichzeitig. Ich nehme sie in den Arm und gemeinsam schreiten wir an den Reihen der Gräber entlang. Wir halten uns locker an der Hand und ich lasse mich von Lena führen, während sie ihre Tapsy an der Leine hält.
Wir erreichen das etwas verwilderte Grab einer viel zu früh verstorbenen Frau. Lena bleibt stehen und schaut unverwandt auf den Grabstein. Ich umfasse ihre Schultern und verharre eine Weile stumm neben ihr. Dann sage ich mit gedämpfter Stimme:
„Das Wort ‘Liebe‘ verwendet man heutzutage etwas undifferenziert sowohl für die körperliche und für die seelische Liebe. Zwei Arten der seelischen Liebe gleichen sich wie eineiige Zwillinge: Die Liebe zwischen Mutter und Kind, und die Liebe zwischen Mensch und Tier…“
Unwillkürlich schaut Lena auf ihre Tapsy. Daraufhin hebt sie ihren Blick und schaut mich direkt an. Sie antwortet mit einer Frage:
„Und du möchtest, dass ich zu dir stehe, wie Taps zu mir?“
Ich zucke lächelnd mit den Schultern, schaue kurz in den Himmel und blicke ihr in die Augen.
„Möchtest du so gehegt werden, wie eine Mutter ihr Kind, oder ein Mensch sein geliebtes Tier? Ich achte auf dich, auf dein Wohl. Lasse nichts Unangenehmes an dich heran!“
Sie drückt sich noch enger an mich.
Nach einer Minute sage ich:
„Komm, wir bringen das Grab in Ordnung!“
Ich gehe zum Brunnen und hole von dort Wasser, während Lena auf die Knie geht und Unkraut zupft. Als ich zurückkomme, helfe ich ihr dabei. Nach einer halben Stunde verlassen wir den Friedhof und fahren Richtung Hamburg zurück. Lena sitzt eine Weile stumm neben mir.