Cherie - 12
Er macht einen Schritt in das Schilf hinein und tritt die Halme nieder. Paul bückt sich und nimmt Taps in den Arm, um dann ebenfalls mit den Füssen das Schilf nieder zu treten – etwas neben der Bresche, die Dieter getreten hat, und verbreitert mir so den Weg.
Nach zwei Metern lichtet sich das Schilf und gibt einen Blick auf eine grandiose Landschaft frei. Direkt unter und vor dem Schilf gluckert ein seichter Bach, gerade knöcheltief. Nach weiteren zwei Metern, auf der anderen Seite des Baches liegt ein schmaler Sandstrand von allenfalls einem Meter Breite. Im Hintergrund und rechts von uns liegen bewaldete Höhen über denen sich eine Sandsteinwand erstreckt. Bäume, oben am Ende der Wand, sehen aus wie Modellfiguren. Auch Paul lässt seinen Blick staunend streifen.
„Dies hier nennt man die Kyllschleife,“ sagt Dieter. „Der Hang dort rechts ist 180 Meter hoch.“
„Oh,“ entfährt es Paul.
Er überquert nun als Zweiter den Bach, nachdem er mich von der Leine gelöst hat, und lässt Tapsy drüben von seinem Arm herunter. Zurückblickend fordert er mich mit sanfter Stimme auf:
„Komm, Cherie. Der Bach ist nicht tief, aber achte auf deine Schritte! Die Steine sind zwar rund, aber der Boden ist natürlich nicht eben.“
Ich mache vorsichtig ein paar Schritte und bin bald auf der anderen Seite. Dieter geht nach rechts weiter. Nachdem das Schilfdickicht auf der anderen Bachseite zu Ende ist, erhebt sich drüben eine Sandsteinwand bis zu einer Höhe von vielleicht fünf Metern in der Biegung des Baches. Dort hat sich der Sandstrand diesseits auch auf über zwanzig Meter verbreitert.
Bisher bin ich folgsam neben Paul her getrottet. Jetzt bückt sich Paul, löst auch Tapsy von der Leine und sagt, zu mir gewandt:
„Cherie, AUF! FREI!“
Aus dem Kommandotraining weiß ich, dass ich nun auf meine ‘Hinterbeine‘ steigen und mich frei bewegen darf bis ein neues Kommando erfolgt. Erfreut stehe ich auf und recke mich. Dann laufe ich den Strand hinunter zur Uferlinie. Tapsy folgt mir, ein paar Mal kurz freudig bellend. Ich versuche aus dem Lauf einen Handstand, um einen Überschlag zu produzieren, was mir aber misslingt. Lachend auf der Seite landend, erreicht mich Tapsy und springt an mir hoch. Währenddessen rappele ich mich auf.
‚Das ist ganz sicher die wahre Freiheit,‘ geht mir gedanklich durch den Kopf. ‚Von einem geliebten Mann sicher geführt, geschützt und gepflegt zu werden. Weit weg vom Alltag, vom täglichen Kampf ums Überleben. Paul kann ich vollkommen vertrauen.‘
Ich beuge mich zu Taps hinunter und spiele eine Weile mit ihr. Einem momentanen Impuls folgend – Paul hat mir einmal gesagt, ich solle in der jeweiligen Gegenwart leben. Die traurige Vergangenheit ist vorbei, um eine gute Zukunft kümmert er sich schon – laufe ich vor Taps davon. Dann drehe ich mich zu ihr um und locke sie mittels Gestik: Ich gehe auf alle Viere und beuge meine Ellbogen bis mein Kinn fast den Boden berührt. Das bedeutet für Hunde: Komm, spiel mit mir. Taps kommt auf mich zu gelaufen und ich nehme einen kleinen Zweig aus dem Gras, den der Wind wohl dorthin geblasen hat.
Taps schnappt danach, aber ich gebe ihn nicht sogleich ab. Ich bleibe in der eingenommenen Stellung und lasse Taps einige Sekunden an dem Zweig ziehen. Auch sie zeigt die Spielaufforderungs-Geste, obwohl sie nun zu knurren beginnt. Ich lasse los und Taps entfernt sich mit dem Zweig einen halben Meter. Schnell hab ich den Zweig wieder gegriffen und wir zerren beide daran.
Das Spiel dauert eine Weile, bis Tapsy damit wegrennt. Nun wate ich durch das kühle Wasser des Baches und schaue von drüben zurück, was Paul wohl gerade macht. Ich sehe, dass er mich beobachtet. Ich lächele ihm zu und winke kurz mit einer Vorderpfote. Danach versuche ich den steilen, aber nicht sehr hohen Sandsteinhang hinauf zu klettern. Nach etwa einem Meter verliere ich den Halt und komme ins Rutschen bis meine ‘Hinterpfoten‘ wieder vom Wasser des Baches umflossen werden.
Das Geräusch vom Plätschern des Baches ist stärker geworden. Aufschauend erkenne ich Pauls besorgtes Gesicht über mir.
„Alles in Ordnung, Cherie?“ fragt er und nimmt meine Pfoten und Arme ‚unter die Lupe‘.
„Tut dir etwas weh?“ will er noch wissen, aber ich schüttele lächelnd den Kopf und drücke mich an ihn. Das ist es also, was er unter Fürsorge versteht. Er lässt mir gewisse Freiheiten, ohne mich aus den Augen zu verlieren, und ist zur Stelle, wenn es gefährlich zu werden scheint. Oh, ich liebe ihn dafür!
Taps schüttelt Wasser aus ihrem Fell. Auch sie hat den Bach überquert. Aber Paul sagt kurz: „BEI FUSS!“ und überquert den Bach wieder.
Er will wohl, dass wir auf der Sand- und Grasfläche am anderen Bachufer bleiben. Gehorsam überquere ich den Bach und meine Tapsy folgt mir. Drüben angekommen streicht mir Paul sanft über die Flanke (Seite meines Rumpfes) und sagt wieder: „FREI!“
Also beginne ich wieder mein Spiel mit Tapsy. Einen Moment schaut Paul weg. Er unterhält sich mit Dieter und vertraut wohl darauf, dass auf der Wiese nichts passieren kann. Ich laufe bis ich hinter Pauls Rücken bin, gehe auf alle Viere und ramme ihm meine Schulter in die Kniekehle.
Paul knickt ein und liegt kurz darauf auf dem Rücken im Gras neben mir. Ganz Hundeartig beginne ich ihn im Gesicht zu lecken. Nach der nassen Nasenspitze beschäftige ich mich aber mit der Hand, die er abwehrend gehoben hat. Nach dem ersten überraschten und verärgerten Gesichtsausdruck beginnt er nun zu lächeln, denn längst lacht Dieter über die Szene, die sich ihm da bietet.
„Wir sollten uns langsam auf den Rückweg machen,“ schlägt Dieter jetzt vor.
Paul schaut auf die Uhr und nickt. Er rappelt sich auf und sagt: „ZU MIR!“
Ich nähere mich ihm mit gesenktem Kopf – sicher ist sicher…
Er sagt: „SITZ!“ und ich setze mich sofort auf meine Fersen.
Paul greift nun in seine Gürteltasche und steckt mir ein Stückchen Schokolade in den Mund. Taps sieht das wohl und ist inzwischen auch heran gekommen. Er gibt ihr ein Hunde-Leckerlie und nimmt sie wieder an die Leine. Mit einem „BEI FUSS!“ in meine Richtung geht es wieder zu der Stelle, wo wir anfangs den Bach überquert haben. Wir gehen durch die Bresche im Schilf, über den Pfad, zum Waldweg zurück. Hier nimmt mich Paul ebenfalls an die Leine.

*

Zurück in Dieters Haus zieht Cherie an der Kette und setzt sich vor die Tür der Gästetoilette im Foyer. Ich beuge mich, verstehend lächelnd, zu ihr und mache sie vom Halsreif los. Dann öffne ich ihr die Tür und lasse sie hinein schlüpfen.