Cherie - 21
Wenn nicht, hat man einen Freund fürs Leben, der einem vielleicht hilft, einen Partner fürs Leben zu finden – entweder aktiv oder passiv, indem er einen mit anderen Freunden bekannt macht. In diesem Freundeskreis findet sich dann vielleicht einer, zu dem man sich hingezogen fühlt.
Jedenfalls ist der Mensch erst vollständig in einer Beziehung mit einem Anderen: Der Andere ergänzt einen an Stellen, wo man bei sich ein Defizit feststellt. Wenn ich es nun liebe, Verantwortung an jemand abzugeben, dem ich voll vertrauen kann – wieso bin ich dann zu faul Selbstverantwortung zu übernehmen? Vielleicht mag es mein Partner ja, Verantwortung für Andere mitzutragen! Vielleicht ist das gerade für ihn eine Steigerung seiner Lebensqualität! So ergänzen wir uns und wirken von außen als ein Ganzes, als ein glückliches Paar! Mich als zu faul hinzustellen, Selbstverantwortung zu tragen, heißt einerseits nur, dass derjenige der das sagt, Angst hat Verantwortung abzugeben, oder für Andere zu tragen. Andererseits guckt derjenige dem Anderen nur vor die Stirn, will nichts anderes von seinen Mitmenschen wissen, als das was seine Vorurteile ihm einflüstern.“
Da habe ich nun aber ein Thema angeschnitten… Lenas Wangen glühen. Sie scheint sich aufgestauten Frust von der Seele zu reden. Na, wenn es sie erleichtert, soll sie es ruhig tun. Gleichzeitig machen mich ihre Worte sehr nachdenklich. Mein bisheriges Leben lief wohl auf einem falschen Gleis. Wie gut, dass ich sie auf dem letzten Event kennenlernen durfte und mich mit ihr austauschen konnte. Bestimmt lässt sich aus ihren Worten etwas Positives für mich entnehmen. Ich muss nur einige Tage oder Wochen warten und die richtigen Assoziationen dazu finden.
„Zurück zum Wochenende,“ versuche ich das Thema zu wechseln. „Dieser Dieter hat die Möglichkeit unsere Neigung real auszuleben – und dabei nicht bloß innerhalb der Wohnung zu bleiben. Nebenbei scheint er sehr sympathisch als Mensch zu sein, und auch seine Ansichten gefallen mir. Es sind die Gleichen wie die von Paul.“
„Ich sage Paul öfter, dass wir in die Eifel ziehen sollten. Vielleicht kann man ein zweites Haus auf das Grundstück setzen. Ich glaube das ist es, was ihn bisher so zurückhaltend reagieren lässt. Und, ja – auch altersmäßig würde Dieter zu dir passen.“
Lena zwinkert mir lächelnd zu.
„Stimmt schon, das Haus hat keine zwei separaten Wohnungen. Ein zweites Haus wäre die Lösung für ein dauerhaftes Leben dort. – Und was das Andere angeht: Ich lasse es mir durch den Kopf gehen!“
Nun zwinkere ich zurück und wir lachen kurz gemeinsam. Ich fühle mich, als hätten wir eine Verschwörung verabredet.
Der Bus hält. Wir sind am Bahnhof angekommen. Da der Zug erst in 35 Minuten abfährt, gehen wir noch auf einen Cappuccino in das Bahnhofscafé.

*

Vier Wochen sind seit dem Wochenende bei Paul und Lena vergangen. Eine gewisse Unruhe hat mich durch meine Tagesabläufe begleitet. Endlich treffe ich eine Entscheidung.
„Mattes!“
Ich habe Dieters Telefonnummer von Lena erfragt und eben gewählt.
„Hallo Dieter, ich bin Biggi. Ich war vorigen Monat zusammen mit Paul und Lena bei dir.“
„Okay, grüß dich, Biggi. Kann ich etwas für dich tun?“
„Ich wollte dich einmal etwas Persönliches fragen.“
„Nur zu, Biggi. Frag mir ruhig Löcher in den Bauch, dass ich danach aussehe wie ein schweizer Käse! Ich bin offen für alles, was dich beschäftigt.“
„Siehst du, das ist es was ich so an euch mag…“
„Was?“
„Dass man Paul und dir gegenüber keine Scheu haben braucht! Hast du an einem der kommenden Wochenenden Zeit, dass man sich mal unter vier Augen treffen kann?“
„Klar! Wann magst du kommen? Nächstes Wochenende schon, oder das darauf? Und wie kommst du?“
„Ich könnte morgen das Ticket im Bahnhof kaufen und am nächsten Wochenende kommen, wenn dir das nicht zu sehr nach Überfall aussieht. Welchen Zielbahnhof müsste ich dann angeben?“
„Nein, komm ruhig schon am nächsten Wochenende. Ich bin solo, also allein, und freue mich sehr über Gesellschaft! Du kannst Gerolstein oder Kyllburg als Zielbahnhof angeben. Sag mir dann Bescheid, damit ich weiß wo ich dich auflesen soll.“
Ich muss lächeln. Eins liegt mir noch auf dem Herzen:
„Wäre es dir recht, wenn ich zu einer Session zu dir komme? Magst du eine Doggie für ein Wochenende bei dir beherbergen? Sagen wir von Freitagnachmittag bis Sonntagvormittag…“
Ich höre geradezu, wie Dieter wohl ein breites Lächeln zeigt, als er zusagt. Wir verabschieden uns und am nächsten Tag fahre ich nach der Arbeit zum Bahnhof. Ich wähle Gerolstein als Zielpunkt, weil das Ticket dorthin ein paar Euro billiger ist. Am Abend informiere ich Dieter und am Freitag nach der Arbeit fahre ich mit Herzklopfen los.

*

Ich fahre am Freitagnachmittag mit meinem Wagen zum Bahnhof in Gerolstein und parke auf dem Platz neben den Gleisen. Biggi hat mir gesagt, wann der D-Zug Köln-Trier hier hält. Zehn Minuten ist noch Zeit, also bleibe ich noch ein wenig im Auto sitzen.
Zwei Minuten vor der Ankunft gehe ich zum Bahnsteig und pünktlich hält der Zug neben dem kleinen weißen Bahnhofsgebäude. Nur wenige Fahrgäste verirren sich in das Eifelstädtchen. Schnell habe ich Biggi gesehen und gehe auf sie zu, um sie zu begrüßen.
„Hallo Biggi,“ sage ich lächelnd und biete ihr meine Hand. „Wie war die Fahrt?“
„Och, es ging. Ich musste in Köln eine dreiviertel Stunde auf den Anschluss warten, aber jetzt bin ich ja hier.“
„Das freut mich,“ antworte ich. „Mein Auto steht gleich dahinten. Wir fahren dann noch bei einem Supermarkt vorbei und dann zu mir.“
Ich führe sie an den Gleisen vorbei zum Auto, lege ihre Tasche in den Fußraum hinter ihrem Sitz und fahre los, nachdem sie sich angeschnallt hat. Im Supermarkt kaufe ich einen Fisch und Croissants, dann fädele ich mich in den stadtauswärts fahrenden Verkehr ein, vorbei an einem Industriegebiet. Nach einer halben Stunde fahre ich auf den Weg zu meinem Haus und helfe Biggi beim Aussteigen.