Samstag, 2. Januar 2021
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 35
„Wenn ich mich hinstelle und sage, ihr müsst… ihr dürft ab jetzt nur noch… und so weiter, und harte Strafen androhe, also ein Regime der Angst errichte – dann hast du Recht! Aber ich sage: Schaut, wie ich es mit meinen Wahine mache. Schaut, wie sie darauf reagieren. Versucht es selbst auch einmal.
Ich unterbreite Vorschläge, gebe Beispiel, bin gesprächsbereit, unterstütze Kompromisse…“
„Okay, ich werde darüber nachdenken,“ sagt er und erhebt sich.
Damit ist der heutige Nachmittag beendet. Der Kahuna begleitet mich zum Eingang seines Fale und steigt mit mir die Treppe hinunter. Ich trage LELE die in den Baumstamm geschlagenen Stufen hinunter. Der Kahuna bückt sich und hebt RAKA‘U auf seine Arme, um sie mir hinterher zu tragen. Sie lässt es geschehen, was mir zeigt, dass sie mit diesem Fale und seinem Bewohnern schon sehr vertraut ist. Unten lässt der Kahuna RAKA‘U auf den Boden herab und wir verabschieden uns noch einmal, indem wir uns gegenseitig an den Unterarmen fassen.
Während der nächsten Nachmittage sehe ich zwei der Wahine frei im Haus herum laufen bis auf die Zeiten der Unterweisung. Auch die sechs Poki tane haben jeder eine Wahine, die kaum von ihrer Seite weicht. Nur die restlichen Fünf bleiben noch rund um die Uhr im Gehege. Ich muss schmunzeln. Dass der Kahuna zwei Wahine aus dem Gehege für sich ausgewählt hat, muss für ihn wohl eine Art Statussymbol sein, das ihn von seinen Poki tane abhebt.
LELE und RAKA‘U behandele ich dagegen stets wie Mutter und Tochter. Ich bin mit beiden zärtlich, wenn ich denke, dass sie Zuwendung brauchen. Jedoch werde ich nur mit LELE intim. RAKA‘U scheint dies als eine Art Hierarchie zu sehen, und sich mit diesem ‚zweiten Platz‘ arrangiert zu haben. Sie sieht ähnliches ja in der Männerwelt mit deren siebzehnstufiger Hierarchie.


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Einige Monate danach erhalte ich wieder eine Einladung an einem Hui –Versammlung- im Fale Pa’enga –Gemeinschaftshaus- teilzunehmen. Der Überbringer der Einladung ist einer der Schüler des Chefs der Schule für Wahine –Frauen-. Er sagt mir noch, dass ich LELE und RAKA‘U mitbringen soll. Sein Kahuna würde ebenfalls seine Wahine mitbringen, HETU‘U –Stern- und RA’A –Sonne-.
Ich streife ein paar Tage vorher durch den Wald, um Beeren, Früchte und Kräuter zu sammeln. LELE und RAKA‘U begleiten mich und bringen mich zu den vielversprechendsten Stellen. Aus meinem Manavai –Garten- hinter dem Haus nehme ich mehrere Körbe voll Kumara –Süßkartoffeln-. Am Tag der Zusammenkunft bitte ich meine Schüler die Lebensmittel zu den Umu –Erdöfen- am Strand vor dem Gemeinschaftshaus zu bringen. Dort werden sie gemeinsam mit den Lebensmitteln und Jagdbeuten der anderen Haushaltsvorstände zubereitet und dampfgegart. Jede Besprechung klingt aus mit einem Essen, an dem der ganze Stamm teilnimmt.
Wieder trage ich meine Wahine nacheinander auf meinen Armen die Stufen hinauf. Oben setze ich mich an das Ende der zwei langen Reihen der Kahunas. Es sind noch nicht alle Ratsmitglieder anwesend. Die beiden sich zugewandten Reihen weisen noch einige Lücken auf. Kaum sitze ich mit untergeschlagenen Beinen auf der Matte aus Totora –Binsen/Schilf-, fordert mich der Kuia auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Dort sitzt schon der Kahuna –Experte/Weiser- der Schule für Wahine. Ich nehme das Angebot lächelnd an. Es abzulehnen wäre unhöflich.
Als ich mich neben dem Kahuna niederlassen will, sehe ich, dass der Kahuna, der mich aus dem Pazifik gezogen hat, zu meiner Linken sitzt. Während dieser Umgruppierung, die nur für heute gilt, sind weitere Ratsmitglieder eingetroffen.
Nach einer Weile erhebt der Kuia das Wort:
„Wir haben uns heute hier versammelt, um etwas Wichtiges zu besprechen. Unsere Ahnen sind auf der Flucht ohne Wahine zu dieser Insel gekommen und haben sich hier nieder gelassen. Unsere Wahine, Tamahine und viele Tangata und Poki tane mussten beim Überfall unserer Feinde ihr Leben lassen. Darum haben unsere Ahnen beschlossen dem Feind immer wieder Frauen zu rauben, damit sich unser Stamm von der Niederlage erholt.“
Zustimmendes Gemurmel erfüllt den Innenraum des Versammlungshauses. Er macht eine Pause.
„Unsere Ahnen holten also Wahine unseres Feindes auf die Insel. Sie waren unsere Feinde und deshalb wurde beschlossen, dass sie nicht unter uns leben durften. Sie sollten uns nicht beeinflussen können,“ redet er weiter. „Ihnen wurde der Wald im Inneren der Insel als Lebensraum zugewiesen. Die Umgebung der Fale, der Strand und die Vaka –Kanus- wurden ihnen als Tabu erklärt. Den Tangata –Männern- wurde erlaubt, Wahine im Wald zu jagen. Dafür mussten sie sie ein bis zwei Jahre in ihrem Fale in entsprechenden Gehegen versorgen. Nachkommen aus diesen zeitlichen Verbindungen wurden getrennt erzogen, je nachdem ob es sich um Poki tane oder Tamahine handelt.“
Wieder macht der Kuia eine Pause und schaut in die Runde. Es herrscht erwartungsvolles Schweigen.
„Hina –Mondgöttin- hat uns einen Manuhiri –Gast- aus einer fernen Welt gesandt, damit wir unser Leben überdenken. Er hat uns die Schrift gebracht, damit wir unsere Geschichten für alle Zeit festhalten können. Nun hat er unsere Aufmerksamkeit auf unser Verhältnis zu den Wahine gelenkt…“