Montag, 18. Januar 2021
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 51
Als ich am nächsten Morgen erwache, plagen mich leichte Kopfschmerzen. Ich drehe mich um und halte die Augen noch eine Weile geschlossen. Ich mag noch nicht aufstehen und stelle mich schlafend, weil ich Geräusche um mich herum wahrnehme.
Aber die Geräusche wollen nicht enden. Neugierig blinzele ich schließlich, um mich zu orientieren. Schlagartig bin ich hellwach und stemme mich hoch. Die Kopfschmerzen scheinen durch meine plötzliche Aktion stärker zu werden. Ich schüttele den Kopf. Was ich sehe, lässt Furcht in mir aufsteigen. Ich bin nackt.
Andere Frauen sitzen unter dem Haus zusammen und frühstücken. Ich selbst werde von zwei Jungen durch die Stäbe meines Geheges beobachtet. Ich versuche aufzustehen, aber mir gelingt es nicht viel höher zu kommen, als in den Vierfüßler-Gang, in dem ich mich gestern schon den ganzen Tag durch das Unterholz des Waldes bewegt habe.
Die beiden Jungen schauen sich an, dann steht einer der Beiden auf und geht auf den schrägen Stamm zu, in den Stufen hineingeschlagen wurden. Über die Treppe verschwindet er im Haus und kurz darauf kommt er in Begleitung von zwei älteren Männern zurück.
Die Männer betreten das Gehege und lassen das Tor hinter sich offen. Sie tragen einen Wickelrock, wie er heute noch von vielen Ureinwohnern auf den Inseln und im Inneren meiner Heimat getragen wird. Einer der Beiden ist von heller, sonnengebräunter Haut. Es ist Herr Emmerich.
Sie bleiben etwas im Hintergrund, während die Jungen mir zu Essen und Trinken durch die Gitterstäbe aus Bambus schieben. Ich beginne nun ebenfalls zu Frühstücken, drehe mich dabei aber etwas verschämt weg, damit sie nicht alles von mir sehen können.
Der dunkelhäutige Mann tritt jetzt näher an die Bambusstäbe und sagt mit festem Ton:
„Kai-ma!“
Ich verstehe nicht, was er meint und befasse mich weiter mit meinem Frühstück. Die Jungs haben sich draußen im Schneidersitz hingesetzt und schauen mir zu. Der ältere dunkelhaarige Mann geht wieder nach oben ins Haus und nun nähert sich Herr Emmerich mir.
„Der Kahuna hat dir einen Namen gegeben,“ sagt er. „Hier bei den Leuten heißt du ab heute ‚Kai-ma‘, was soviel wie ‚Weißes Fleisch‘ bedeutet.“
„Ah,“ antworte ich. „Wer oder was ist der Kahuna?“
„Direkt übersetzt heißt der Titel ‚Experte‘. Kahunas gibt es in vielen Lebensbereichen. Mal sind es die Kapitäne… Hier ist es der Chef dieser Doggie-Schule. Du solltest ab jetzt auf deinen Namen ‚Kai-ma‘ immer prompt hören und tun, was man von dir verlangt. Dann bist du bald eine Doggie, so wie man sie sich hier vorstellt. Dann wirst du sicher bald einen Herrn finden, der eine Doggie sucht – und der dir gefällt. Das wolltest du doch, nicht?“
Es entsteht eine kleine Gedankenpause, in der ich das eben gehörte verarbeite.
Danach gibt er mir noch einige Verhaltensregeln mit der Ankündigung, dass die Befolgung mit Nahrung belohnt wird. ‚Wie auch immer,‘ meint er. ‚Der Kahuna sorgt sich um das Wohl jeder seiner Schülerinnen und kümmert sich um ihre Pflege, wenn sie sich angepasst verhalten.‘
Danach wendet er sich zum Gehen und ruft:
„LELE, RAKA‘U, ZU MIR!“
Er beugt sich zu ihnen hinunter und streichelt ihnen durchs Haar, während sie ihre Wangen an seinem Bein sanft reiben. So nahe ist er mir bisher noch nicht gekommen. Anschließend geht er davon und nimmt mit den Frauen den Weg, der von der Lichtung wegführt.
Die Poki tane des Kahuna bringen uns, den Schülerinnen, in den folgenden Tagen die Kommandos bei, sowohl in sprachlicher Form, als auch über Gestik. Nur noch selten denke ich an Andrej. Auch verliere ich langsam das Gefühl für die Zeit. Bald weiß ich nicht, wieviel Tage oder Wochen ich schon in der Urwaldschule bin.

*

Eines Nachmittags taucht eine weiße Yacht vor der Küste auf. Sie lassen zwei Anker so fallen, dass der Bug auf das Dorf zeigt. Dann werden zwei Motorboote zu Wasser gelassen. Eins wird mit Stoffen beladen. Ein Mann im Heck manövriert es neben das andere Boot, indem vor dem Mann am Außenborder zwei Männer Platz genommen haben.
Sie fahren auf den Strand, indem sie die Außenborder kippen. Danach steigen sie aus. Die beiden Männer, die die Boote gesteuert haben, bleiben bei den Booten, während die beiden Männer in weißen Uniformen auf die Hütten zugehen.
Unsere Tangata begrüßen die Neuankömmlinge wie üblich auf polynesische Art mit einem Haka -einem Scheinangriff- mit Stöcken und Grimassen schneiden.
Die Männer ziehen nun kleine Pistolen und schießen unsere Tangata nieder. Wir halten den Atem an. So ist die Annäherung wahrlich nicht geplant gewesen. Einer der Männer spricht in ein Handfunkgerät, dann ziehen sie sich zu ihren Booten zurück. Dort nehmen sie Gasmasken und legen sie sich an. Anschließend hören wir kleinere Explosionen. Dann wird es Nacht um uns.
Als wir wieder erwachen, sind die Boote und auch die Yacht verschwunden. Die Stoffe haben sie auf dem Strand gestapelt. Unsere Tangata liegen noch immer tot am Eingang des Dorfes.
LELE und ich vermissen RAKA’U. Wir gehen zum Kuia -Stammesältesten- und berichten ihm, dass neben den Toten auch mindestens eine Wahine fehlt. Andere Tangata treffen ein und berichten das Gleiche.
„Kümmert ihr euch, um die würdevolle Bestattung der verdienten Männer,“ schlage ich vor und biete an: „Ich wandere von Fale zu Fale und lasse mir aufzählen, wer fehlt.“
Der Kuia nicht und so verlasse ich das Fale Pa’enga -Versammlungshaus-, das gleichzeitig dem Kuia als Wohnhaus dient, und gehe zum nächsten Haus. In allen Häusern fehlt mindestens eine Wahine. Als ich in der Schule ankomme, muss ich erkennen, dass fast alle Wahine dort fehlen. Auch Vikki ist fort, und ein Poki tane.
Ich drehe um und gehe zum Fale Pa’enga zurück. Die ganze Zeit ist LELE nicht von meiner Seite gewichen. Unterwegs rede ich in beruhigendem Ton auf sie ein. Ich werde alles daransetzen, ihre Tochter und die anderen Wahine zurück auf die Insel zu holen! Die Männer haben einen großen Fehler gemacht, indem sie Vikki/Kai-ma mitgenommen haben.