Dienstag, 26. Januar 2021
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 59
Über meiner Nase bilden sich zwei senkrechte Falten, als ich ihn nun anschaue.
„Hundesport?“ frage ich.
„Jaein,“ relativiert Herr Emmerich nun. „Du krabbelst auf Händen und Knien, wenn du auf allen Vieren bist. Von Japan und Nordamerika schwappt eine Workout-Sportart zu uns herüber, die sich ‚BearCrawl‘ nennt. Damit würdest du dich viel natürlicher auf allen Vieren fortbewegen und wärst schneller als auf Händen und Knien. Es braucht allerdings Übung und anfangs einiger Pausen zwischendurch.“
„Okay! Da bin ich mal gespannt,“ sage ich.
„Also, dann komm mit!“ fordert er mich auf, während er sich erhebt.
Ihm auf Händen und Knien folgend, gehen wir durch die Tür in den Trainingsraum. Neugierig schaue ich mich um und wähne mich beinahe im Turnraum unserer früheren Schule. Der Boden ist parkettbelegt und mit verschiedenfarbigen Streifen versehen. Auf einer Seite gibt es unter der Decke ein Fensterband, das jetzt gekippt ist, um Luft herein zu lassen. Auf der anderen Seite sind verschiedene Trainingsgeräte aufgestellt und Filzdecken liegen herum. An der Wand zu den Zwingern hin finde ich einige niedrig angebrachte Waschbecken und darüber Regale mit verschiedenen flauschigen Tüchern. Der Boden darunter ist gefliest. Die Fliesen haben Noppen von wenigen Millimetern Höhe und rund um den Bereich einen zwei Zentimeter hohen Rand.
In diesem Moment kommt eine braunhäutige Frau mit Kraushaar auf allen Vieren auf uns zu getrabt, die ich in etwa in meinem Alter einschätze. In knapp ein Meter Entfernung zu Herr Emmerich streckt sie ihre Arme in seine Richtung, geht dabei mit dem Schultergürtel tiefer und beginnt zu gähnen. Dabei lässt sie ihre Hüften wackeln.
Herr Emmerich macht einen Schritt auf die Frau zu und streicht ihr zärtlich über den Kopf. Dabei spricht er sie mit sanfter Stimme an. Zu mir sagt er dann:
„Darf ich euch miteinander bekannt machen? Bella, das hier ist RAKA’U! RAKA’U this is Bella!“
RAKA’U nähern sich mir nun und riecht an meiner Schulter. Spontan weiche ich etwas zurück. Darüber lacht Herr Emmerich kurz und erklärt:
„RAKA’U und ihre Mutter LELE habe ich in der Südsee kennengelernt. Sie haben dort schon eine Zeitlang als Instrukteurinnen in der Hundeschule eines befreundeten Experten gearbeitet.“
Herr Emmerich spricht nun in einer fremden Sprache mit RAKA’U. Sie trabt wieder zu den Sportgeräten zurück und klinkt ein schweres Teil an einem Band in ihr ledernes Geschirr. Das Teil steht auf solch einer Filzdecke. Nun kommt RAKA’U zu uns zurück. Sie hat sichtlich Mühe dabei.
Herr Emmerich sagt zu mir:
„Bella, komm. Stell dich neben RAKA’U auf und mache ihre Bewegungen nach! Durch das Gewicht in ihrem Rücken siehst du die Bewegungen des BearCrawl wie in Zeitlupe. So lernst du den Bewegungsablauf schneller.“
Ich versuche es, setze meine Beine aber nach wenigen Minuten wieder auf den Knien ab.
„Das zieht in der Oberschenkelmuskulatur?“ fragt Herr Emmerich verständnisvoll. Ich bejahe das.
Herr Emmerich redet darauf wieder kurz mit RAKA’U. Sie bringt ihr Gewicht wieder zurück an die Wand und klinkt sich aus. Anschließend kommt sie wieder zu mir zurück, stellt sich auf allen Vieren neben mich und hebt eine Hand. Dann setzt sie die Hand wieder ab und hebt die Andere. Das macht sie mehrfach im Wechsel. Herr Emmerich ist zu einer Musikanlage gegangen und hat sie eingeschaltet. Nun höre ich ein langsames Trommeln. Dazu sagt er:
„Ahme RAKA’U nach. Hebe bei jedem Trommelschlag ein Vorderbein. Später ein Hinterbein. Du bist dann für einen Sekundenbruchteil auf drei Beinen…“
Ich versuche nun RAKA’U nachzuahmen. Bei meinen Armen geht es. Je einen Fuß anzuheben, auch nur für wenige Zentimeter und dabei die Knie nicht abzusetzen ist schon schwieriger. Bald macht RAKA’U im Rhythmus einen Schritt vor, dann wieder zurück, oder zur Seite und wieder zurück. Immer wieder muss ich eine kurze Pause machen und auf Hände und Knie zum Stehen kommen.
Aber mich hat der Ehrgeiz gepackt! Was diese junge Frau so leichtfüßig kann, will ich auch können. Irgendwann erhebt Herr Emmerich wieder seine Stimme:
„Hey, Bella!“ sagt er in anerkennendem Ton. „Das sieht ja schon ganz gut aus! Aber jetzt sollten wir doch Schluss machen für heute. Es ist schon spät!“
Er richtet auch ein paar Worte in der fremden Sprache an RAKA’U, die nun ebenfalls die Übungen beendet. Herr Emmerich hat im Schneidersitz in unserer Nähe gesessen. Er steht nun auf und macht die Musikanlage aus. Anschließend gibt er mir wieder zu trinken und führt mich in meinen Zwinger zurück. RAKA’U begleitet uns und bald bin ich allein. Es dauert nicht lange, dann bin ich auf der Matratze eingeschlafen.
Am darauffolgenden Tag soll ich wieder BearCrawl trainieren. In den Pausen darf ich der nonverbalen Kommunikation zuschauen. LELE, eine etwa zwanzig Jahre ältere Frau nur wenig jünger als Herr Emmerich, ist ebenfalls dabei. Sie unterhält sich mit ihrer Tochter RAKA’U über Gestik und Mimik, und zeigt mir auf diese Weise wie echte Hunde sich verständigen.
In den Tagen danach werde ich in die nonverbale Kommunikation eingebunden. Ich muss also die Gesten richtig interpretieren und ebenso antworten, dass die beiden Frauen mich verstehen. Das macht mir zunehmend Spaß, auch wenn dadurch noch keine rationale Verständigung möglich ist. Aber die emotionale Unterhaltung ist schon interessant.
Erst nachdem ich einigermaßen sicher in der nonverbalen Kommunikation bin, beginnt Herr Emmerich mit dem Kommandotraining. Zwischendurch macht er immer wieder Pausen, die LELE oder RAKA’U sofort dazu nutzen, mich zum Mitspielen aufzufordern.
Die Tage in der INSULA vergehen wie im Flug. Am Ende der von mir gebuchten Dauer möchte ich daher am liebsten dort bleiben. Herr Emmerich tröstet mich und sagt, sobald ein Herrchen greifbar ist, der Vertrauen verdient und sich der Devotion einer Doggie würdig zeigt, würde er sich bei mir melden. Da wissen wir alle noch nicht, was die Zukunft bringt.
Ich fahre wieder nachhause und nehme mein Studium wieder auf, wenn auch halbherzig. In meinem Herzen bin ich der INSULA verbunden. In meiner Freizeit übe ich alles, was ich dort lernen gedurft habe. Bei Spaziergängen versuche ich Hunde, die mir an der Leine ihrer Herrchen/Frauchen entgegenkommen, zu ‚lesen‘. Ich denke, ich treffe dabei mehr und mehr ins Schwarze.

*

Über Internet stehe ich, Karl Emmerich, mit dem Kuia in Verbindung. Da dort Nacht ist, wenn bei uns hier die Sonne scheint, und umgekehrt, sprechen wir bei Bedarf immer in den Abend- und Morgenstunden miteinander. Auf diese Weise habe ich den IWIPAPA -Stamm der Mutter Erde- schon mehrfach helfen können.
Nun haben sich bei den Hui -Stammesversammlungen- zwei gegensätzliche Lager gebildet. Die Einen wollen so leben, wie sie es von den Vätern und Großvätern gewohnt sind. Die Anderen wollen einen sanften Ruck in die Moderne zulassen. Der Kuia -Stammesältester- als Moderator der Versammlungen sieht den Riss immer größer werden.
Ein Auseinanderbrechen des Stammes aufgrund der Kontakte mit der westlichen Kultur, die mit meinem Auftauchen auf der Insel begonnen hat, ist wohl nicht mehr aufzuhalten. Er fragt mich, ob ich nicht dauerhaft bei den IWIPAPA leben möchte. Ich genieße bei allen Seiten ein großes Ansehen. So lässt sich der Stamm zusammenhalten, meint er.
Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass die IWIPAPA vor Hunderten von Jahren von Neuguinea aufgebrochen sind, um eine neue Heimat zu suchen. An solch einem Scheidepunkt stehen die IWIPAPA nun wieder. Es ist doch nichts Ehrenrühriges, wenn sich eine Gruppe aufmacht, eine neue Heimat zu finden! Die Kultur der IWIPAPA wird dadurch in alle Welt getragen.
Der Kuia fragt zurück, wenn ich denn so positiv eingestellt bin, ob ich denn eine Insel für die Rebellen kenne…
Einem Geistesblitz folgend, antworte ich:
„Ja, sie nennt sich INSULA und liegt hier in meiner Heimat. Lass Mateo als Kahuna mit dem Vaka, das ich euch übergeben habe, Nahrungsmittel, Wasser, Gerätschaften und interessierten Tangata mit ihren Wahine zu mir reisen. Ich gebe zu, so weit ist bisher noch nie ein Vaka aus Polynesien gereist, aber es wird sich lohnen!“
Gut zwei Wochen später beginnt die Reise des in Deutschland auf einer Werft entstandenen Vaka -Reiskatamaran- zurück nach Deutschland. Die Kommunikation über Internet läuft nun immer auf dem Vaka ein. Der Kuia hat damit die letzte Verbindung in die Moderne gekappt.
Wir warten über drei Monate auf das Eintreffen Mateos mit seiner Crew. Eines Tages werde ich zu der Concierge gerufen, die ihr Büro im seeseitigen Foyer hat. Um mich in der INSULA schneller bewegen zu können, habe ich mir einen Tretroller gekauft. So bin ich zehn Minuten nach dem Telefonanruf dort.
Sie hat von einer großen Segelyacht gesprochen, die vor dem Hochwasser-Schutztor dümpelt und anscheinend in den Kanal einfahren möchte.