Mittwoch, 20. Januar 2021
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 53
Wir bleiben einige Seemeilen draußen und bilden wieder eine schwimmende Insel. Auch die Masten werden gelegt. Mateo und ich steigen in ein Auslegerkanu um und übernehmen vorsichtig LELE, die sich zwischen uns ablegt. LELE hat sich standhaft geweigert, mit den Anderen auf der neuen Insel zurück zu bleiben. Sie will mich nie wieder alleinlassen. Außerdem ist RAKA’U, ihre Tochter, eine der Betroffenen.
Es ist später Nachmittag. In zwei Stunden ist es dunkel. Ob LELE eine Spur unserer Wahine finden wird? Wir lassen sie dort an Land, wo die Hochseeyacht liegt und entfernen uns wieder. Sie hat mein altes Handy in einer ihrer Taschen dabei, um mich zu rufen. Ich habe meinen Laptop in einer wasserdichten Plastikhülle mitgenommen, um ihr Handy orten zu können. Dann warten wir ab, in der leichten Dünung dümpelnd.

*

Als ich erwache, habe ich heftige Kopfschmerzen. Anderen scheint es genauso zu ergehen, denn ich höre das Stöhnen von mehreren Leuten. Andererseits schwankt der Boden, auf dem ich liege, mal mehr mal weniger. Das lässt blitzartig die Frage in meinem Kopf auftauchen ‚Wo bin ich hier?‘
Ich öffne die Augen und sehe mich mit drei Wahine aus der Schule in einem Raum mit weißen Wänden liegen. An einer der Wände befindet sich weit oben ein rundes Loch mit einem durchsichtigen Material zwischen den Rändern. In der gegenüberliegenden Wand befindet sich eine Tür, die mit einer weißen Platte verschlossen ist und in der sich ebenfalls solch ein Loch befindet.
Die Wahine haben, genau wie ich, außer einem Halsreif aus einem kühlen, festen Material nichts an. Ich erhebe mich und untersuche die Wände und die Tür, kann aber nichts finden, das uns weiterhilft.
Stattdessen spüre ich plötzlich einen starken Schmerz am Hals, der mich zu Boden gehen lässt. Kurz darauf wird die Tür geöffnet. Man stellt uns Schalen mit Essen und Wasser herein. Dann verschließt man die Tür wieder. Noch einmal versuche ich mich zu erheben. Eigentlich habe ich mich nur hinsetzen wollen, um mir eine Schale auf die Oberschenkel zu stellen und zu essen beginnen.
Doch nun liege ich wieder auf dem Boden. Warum macht man das, wenn es nicht ein böser Geist ist? Wenn doch, was will er von mir?
Ich krabbele also zu der Schale und nehme etwas heraus, das ich mir dann in den Mund stecke. Diesmal bleibt der Schmerz am Hals aus. Die Wahine haben mit großen Augen erschreckt meinen Bewegungen zugeschaut. Nun kommen sie auf allen Vieren näher und nehmen ihr Essen mit dem Mund aus den anderen Schalen. Ich sehe, dass kein Schmerz ihr Frühstück stört. Also muss ich mich wohl, wie sie benehmen, damit der böse Geist mich nicht noch einmal schlägt.
Später kommen Männer zu uns herein, klinken Leinen an die Halsreife und ziehen uns aus dem Fale. Wenn wir uns sträuben, spüren wir sofort wieder den Schmerz am Hals. Es geht einen Weg mit weißen Wänden entlang in ein größeres Fale und dort trainiert man mit uns unter Schmerzen das prompte Reagieren auf bestimmte Worte in einer unbekannten Sprache.
Auch erhalten wir neue Namen in dieser unbekannten Sprache. Bis auf Pausen zum Essen und kurzen Ausruhen, geht diese Erziehung von morgens bis Sonnenuntergang. Wie viele Tage es dauert, weiß ich nicht zu sagen. Irgendwann höre ich mehrmals ein rasselndes Geräusch und das dumpfe Brummen im Hintergrund erstirbt. Die leichte Vibration kann man auch nicht mehr spüren. Nur noch ein leichtes Wiegen, wie auf einem Vaka, ist zu spüren.
Jetzt kommt man uns holen und bringt uns eine Treppe tiefer an eine Tür, hinter der man das große Wasser sehen kann. Direkt an der Tür befindet sich ein Kanu, das breiter ist als es unsere zuhause sind. Dort sollen wir hineinsteigen. Dann heult ein Kasten auf und wir fahren mit wehenden Haaren im Sturmwind in einen Fluss hinein.
Bald hält das Kanu an. Andere Männer kommen herbei und übernehmen uns. Während das laute Kanu wieder zurückfährt zu dem riesigen weißen Vaka, das vor unbestimmter Zeit vor unserer Heimatinsel aufgetaucht ist, werden wir ein großes Fale gebracht und dort einzeln in enge Gehege gesperrt.
Ein Gedanke verfestigt sich in meinem Kopf: ‚Wir sind entführt worden! Was wollen die Entführer mit uns? Brauchen sie Wahine? Aber ich bin ein Poki tane! Oder ist diesen Menschen hier das Geschlecht egal? Hat man vielleicht etwas Besonderes mit mir vor?‘
Als alle Wahine in diesem großen Fale einzeln in kleine Gehege gesperrt worden sind – ich nehme an, dass es alle sind, denn irgendwann kommt keine Gruppe mehr herein, geführt von einem dieser Männer -, lässt man uns erst einmal zur Ruhe kommen. Wir bekommen zu Essen und zu Trinken, weiter passiert nichts.
Am darauffolgenden Tag wird es laut in dem Fale. Viele Paare der fremden Menschen kommen herein und gehen schwatzend von Gehege zu Gehege. Irgendwann verlassen sie das Fale wieder, mit einer Wahine aus einem Gehege an der Leine.
Später am Tag passiert mir das Gleiche. Auch ich werde angeleint und muss zwei Menschen auf allen Vieren folgen.

*

Wochen sind seitdem vergangen. Als der heutige Morgen anbricht und ich wach werde, ist mir noch nicht bewusst, wie aufregend der heutige Tag werden wird. Noch müde, öffne ich meine Augen. Gähnend strecke ich mich auf meiner flauschigen Decke.
Langsam wach werdend, erhebe ich mich auf alle Viere und streune durch die Villa, in der ich jetzt lebe. Als ich die Treppe zu den Schlafräumen und Gästezimmern, sowie Bädern hinaufschleiche, höre ich Geräusche. Mein Besitzer ist schon im Bad. Sicher will er wieder einmal auf den Golfplatz. Nun höre ich auch Geräusche aus der Küche im Erdgeschoß. Die Köchin hat also die Order bekommen, ihm ein Lunchpaket fertig zu machen. Demnach wird er wohl erst heute Abend zurückkommen.
In diesem Augenblick kommt Alexej, mein Herrchen aus dem Bad. Er lächelt mich an und sagt:
„Musst du Gassi, Toscha?“
Ich werfe den Kopf hoch, was er als Bejahung interpretiert. Also geht er zur Treppe und sagt im Vorbeigehen „BEI FUSS!“