Sonntag, 17. Januar 2021
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 50
Darüber vergeht der Tag. Gegen Abend erreichen wir die Schule. Am Rand des Waldes bleiben wir stehen und schauen auf die Lichtung. Ich sehe Bewegung im Gehege unter dem großen Fale des Kahuna.
Wir gehen auf das Haus zu. LELE läuft vor und betritt das Fale, um unsere Ankunft zu melden. Kurz darauf kommt sie mit dem Kahuna der Schule und zwei Pokitane zu uns herunter. Sie geben der neuen Wahine etwas zu essen und öffnen ihr ein leeres Gehege. Es dauert etwas bis sie begreift, dass sie die Nacht dort drin verbringen soll.
Die Poki tane setzen sich wartend vor das Gehege und wir gehen zu Kahuna Karl. Oben im Fale legen wir uns rechts und links neben ihn ab. Bald darauf kommen die Pokitane mit der Kleidung der neuen Wahine. Kahuna Karl fragt, ob sie jetzt schläft. Die Poki tane bejahen die Frage grinsend. Nun erhebt sich Kahuna Karl, verabschiedet sich vom Kahuna der Schule und sagt:
„LELE, RAKA’U, BEI FUSS!“
Wir verlassen das Haus, in dem wir nun schon ein Jahr gewohnt haben, während Kahuna Karl nicht bei uns weilte. Er führt uns zu seinem Haus am Rande des Dorfes und lässt uns nach langer Zeit zum ersten Mal wieder in einer Hängematte schlafen.

*

Hinter mir ziehen die Polynesier die Stangen aus dem flachen Meeresboden, richten die dreieckigen Segel neu aus und drehen die Katamarane. Sie entfernen sich vom Strand und fahren nach rechts davon. Herr Emmerich hat mir noch zugerufen, dass ich in die gleiche Richtung gehen soll, in der die Boote verschwinden.
Also halte ich mich nach rechts und gehe an der Wasserlinie entlang über den Strand. Die Sonne beginnt sich zunehmend zu verfärben. Es wird ein grandioser Sonnenuntergang. Bald wird es stockfinster sein. Was mache ich dann bloß? Wo kann ich hier übernachten?
Schließlich setze ich mich einfach dorthin, wo ich mich gerade befinde. Ich habe einen Wasserlauf erreicht, vielleicht drei Meter breit, und das Wasser dort probiert. Es ist tatsächlich Süßwasser. Die beiderseitigen Ufer werden von Gras gesäumt. Hier lasse ich mich zurücksinken und betrachte die Sterne, die mir selten so strahlend vorgekommen sind.
Meine Gedanken gehen zurück zu meinem Domsad in Deutschland, ebenso russischstämmig wie ich. Andrej weiß von der Reise und hat mir einen Chip unter die Haut in der Nähe eines Schlüsselbeins schieben lassen. ‚Damit ich nicht verloren gehe‘, hat er gesagt. Darüber habe ich lächelnd müssen.
Als ich am Morgen wach werde, ist es kühl und feucht. Ich habe großen Hunger. Irgendetwas liegt an mich gekuschelt neben mir. Mich umwendend erkenne ich eine nackte Frau, in viele Lederbänder gewickelt. Erschrocken denke ich, wo hier Bondage betrieben wird und wo sich dann der Rigger befindet…
Die Frau, vielleicht gut zehn Jahre jünger als ich, rollt nun ebenfalls zur Seite und richtet sich auf. Aber sie stellt sich nicht hin, wie ich bei der Bewegung angenommen habe, sondern steht nun auf allen Vieren neben mir. Sie hat mich wohl im Schlaf gewärmt.
Sie trägt ein Outfit aus netzförmig geflochtenen Lederschnüren, die ich zuerst als Fesselung missverstanden habe. Daran sind einige kleine Taschen befestigt. Sie streckt sich und setzt sich auf ihre Fersen. Während sie nun ihre Taschen öffnet und Stücke getrockneten Fisches und Beeren herausnimmt, nähert sich uns eine zweite Frau auf allen Vieren, genauso gekleidet, aber etwas zehn Jahre älter als ich. In einer Tasche hat sie sogar eine kleine Flasche aus Ton, die sie öffnet und im Bach unter Wasser hält. Nachdem sie gefüllt ist, bietet sie mir daraus zu trinken an. So frühstücken wir erst einmal ausgiebig zu Dritt auf der Wiese.
Danach erheben sich beide Frauen wieder auf alle Viere und schauen mich auffordernd an. Die Jüngere stupst mich an und deutet mit einer Hand auf den Wald. Sie macht auf allen Vieren einen Schritt auf die dichte Vegetation zu und wendet sich dann wieder nach mir um. Wieder deutet sie auf den Wald. Ich schüttele den Kopf und deute in Richtung der Küstenlinie. Dort soll ich doch entlanggehen.
Sie schüttelt den Kopf und drängt mich von meiner Richtung ab, zum Wald hin. Auch die ältere Frau nimmt diese Richtung. Unwirsch mache ich einige Schritte in Richtung Wald und drehe mich dann wieder zum Strand hin. Aber die ältere Frau versperrt mir den Weg. Ich gebe auf und nehme die Richtung, in die mich die Frauen führen. Irgendwie bin ich auch neugierig, was mich erwartet.
Immer wieder muss ich mich bücken, um unter den Ästen hindurch zu kriechen, damit ich ihnen folgen kann. Schließlich bin ich es leid und gehe ebenfalls auf Hände und Knie. Ich imitiere deren Gang. Die Verständigung geschieht über Gestik und Mimik. Darin sind sie so beredt, dass ich sie wunderbar verstehen kann. Sie warnen mich rechtzeitig vor Gefahren und achten auch sonst sehr auf mich.
Unterwegs zeigen sie mir verschiedene Pflanzen und drängen mich dann den Kopf schüttelnd davon weg. Andererseits zeigen sie mir Früchte, die sie gepflückt haben, drehen sie um alle Seiten und essen sie. Auch mir bieten sie davon an. So zeigen sie mir giftige Pflanzen und auch solche, die man essen kann.
Genauso machen es meine Begleiterinnen, sobald wir ein Tier im Wald entdecken. Darüber vergeht der Tag. Als die Dämmerung anbricht erreichen wir eine Lichtung im Wald, auf der eine Hütte aus Holz und Bambus steht, mit hochgezogenen Giebeln. Verschiedenen Kulturpflanzen stehen in einer Art Garten beim Haus.
Meine Begleiterinnen führen mich auf das Haus zu. Es steht auf Pfählen. Der größte Raum unter dem Haus bildet ein eingezäuntes Gehege. Die ältere Frau läuft vor und balanciert über einen schräggestellten Baumstamm mit eingekerbten Trittstufen. Dann betritt sie das Haus und ist sogleich meinen Blicken entschwunden. Kurz darauf kommt sie mit einem älteren Mann und zwei jungen Männern auf dem gleichen Weg zu uns herunter.
Die Männer geben mir etwas zu essen und öffnen ein leeres Gehege. Mit Gesten bedeuten sie mir, dass ich dort hineingehen soll. ‚Und nun?‘ frage ich mich und schaue genauso ratlos von einem zum anderen. Die beiden Frauen kommen zu mir herein. Eine legt sich ab und die andere stupst mich an und deutet auf die Erste. Endlich mache ich es ihr nach und lege mich ebenfalls hin. Ich werde nun auch sehr müde und bin bald eingeschlafen.