Sonntag, 10. Januar 2021
IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 43
Ich laufe dorthin und lege mich darauf, ihn unverwandt anblickend. Oh, wie sich der Stoff an meinen Körper schmiegt… Das ist etwas ganz anderes, als die Decken auf hartem Grund, die es in der Schule gab.
„Dies ist ab sofort dein Zuhause!“ sagt er im sanften Ton.

*

Meine Wahine LELE und RAKA‘U sind mit mir zum Strand heruntergekommen. Sie wollen der Abfahrt des großen Reisekanus zuschauen. Ich kann sie verstehen. Auch ich kann mich kaum von ihnen trennen, so sehr sind sie mir ans Herz gewachsen. Die letzte Nacht sind beide zu mir in die Hängematte gekommen und haben sich an mich gekuschelt.
Ich bin der einzige Passagier an Bord des großen Reisekanus, das nicht wie üblich aus einem Kanu mit einem Ausleger besteht, sondern aus zwei miteinander verbundenen Kanus. Auf die Stämme, die die beiden Kanus verbinden, wurde eine Plattform gelegt und darauf ein windgeschützter Unterstand errichtet.
Der Kahuna hat sich einen geknickten Palmwedelzweig um den Hals gelegt und sitzt auf der Plattform an einer Stelle, von wo er alles gut im Blick hat. Nachdem die Insel hinter dem Horizont verschwindet, setze ich mich in seine Nähe um mich unterhalten zu können, aber auch um von ihm zu lernen. Die sechs Poki tane an Bord wissen aber auch ohne ihn, was zu tun ist. Jeder Handgriff sitzt. Der Kahuna gibt den beiden Steuerleuten im Heck der beiden Kanus nur ab und zu Hinweise mit ruhiger Stimme oder Handzeichen, je nachdem wie laut die Naturgewalten sind.
Wir haben Proviant für etwa einen Monat an Bord. Der Kahuna kennt die Strecke und lässt zwischendurch Fische fangen. Nach fünfzehn Tagen auf See taucht am Horizont Land auf. Als wir näher heran sind, lässt er den Kurs ändern. Wir folgen der Küstenlinie bis es dunkel wird. In der Ferne kann ich Lichtschein erkennen.
„Das ist unser Ziel,“ sagt er zu mir und lässt die Segel an die Masten binden.
Die Männer holen Stechpaddel hervor und wir paddeln auf die Küste zu. An Land wird das Vaka festgemacht und wird schlafen unter geflochtenen Matten, die uns als Windschutz dienen.
Am nächsten Morgen ziehen sich die Männer Hosen und T-Shirts an. Da ich verwundert gucke, erklärt mir der Kahuna:
„Für den Kontakt mit den Tangata aus dem Kai’nga unserer Ahnen haben wir diese Kleidungsstücke erhandelt. Die Menschen hier sind von euch Haole inzwischen so beeinflusst, dass sie das Tragen unserer traditionellen Kleidung vergessen haben.
Wir gehen in die Ansiedlung, die wir gestern Abend gesehen haben und schauen uns um. Du würdest uns einen großen Dienst erweisen, wenn du hier beim Vaka bleiben würdest. Sonst müsste ich einen der Männer zurücklassen.“
Ich hebe den Kopf zu einem stummen „Ah“ und nicke dann.
„Nein, nein! Ist schon in Ordnung! Du kannst dich auf mich verlassen.“
Der Kahuna fasst meinen Unterarm und ich den seinen. Dann kommt er mit seiner Nase der meinen sehr nahe und atmet geräuschvoll aus. Ich mache es ihm gleich. Nach diesem traditionellen Hongi –Nasengruß- brechen die Männer auf.
Der Kahuna hat mir auf der Herfahrt erzählt, was nun passiert. Sie werden zu dem Dorf wandern und sich dort unauffällig umschauen. In der kommenden Nacht werden sie leise in ein Haus schleichen und einer jungen Frau im Schlaf ein kleines Tattoo stechen. Ganz oberflächlich nur! Es wird später in einer zweiten Sitzung vervollständigt.
„Warum setzt ihr euch mit diesem Ritual der Gefahr einer Entdeckung aus?“ habe ich ihn gefragt. „Ihr könnt doch die ausgewählte junge Frau gleich entführen, wenn ihr nicht offen eine Frau für die Übersiedlung anwerben wollt…“
„Das hängt mit einem Mythos zusammen, der allmählich unter den Einheimischen entstanden ist,“ hat er mir geantwortet.
„Ein Mythos?“ frage ich und schaue ihn verständnislos an.
„Ja,“ hat er mir dann erklärt, „ die Menschen hier glauben, dass Fischmenschen ab und zu Frauen mit sich nehmen, die gegen irgendeine Regel des gesellschaftlichen Miteinanders verstoßen haben. So wehren sie das Aufbegehren junger Angehöriger gegen die Älteren ab.
Wir betäuben also eine junge Frau, damit sie tief schläft, und stechen ihr die Umrisse eines späteren vollen Tattoos. Dann lassen wir sie es am folgenden Tag entdecken und beobachten ihre Reaktion und die ihrer Freunde und Familie, bevor wir sie in einer der nächsten Nächte – wann die Gelegenheit am günstigsten ist – schlafend auf das Vaka bringen und davon segeln. Die Leute im Dorf haben so eine einfache Erklärung zum Verschwinden der jungen Frau und suchen nicht nach ihr.“
Nach dieser Erklärung werden die Männer mindestens zwei Tage weg bleiben – oder auch länger. Das entscheidet sich vor Ort.
Tatsächlich kommen sie am frühen Morgen des dritten Tages vor Sonnenaufgang zurück. Einer von ihnen trägt eine schlafende hübsche junge Frau auf seinen Armen, die in den Rumpf eines der beiden Kanus gelegt wird. Dann binden die Männer das Vaka los und ziehen es ins Wasser zurück. Als alle an Bord sind lässt der Kahuna das Vaka ins tiefe Wasser paddeln. Dann setzen die Poki tane die Segel und die Rückfahrt beginnt.
Nun kümmert sich einer der Poki tane regelmäßig alle paar Stunden um die junge Frau. So vergehen die zehn Tage der Rückfahrt ziemlich gleichförmig. Da der Wind in diesen Breiten zumeist ostwärts weht, geht die Rückreise entsprechend schneller voran. Gegen Abend erreichen wir unsere Heimatinsel und ankern im seichten Wasser auf der gegenüberliegenden Seite, kilometerweit von unserer Ansiedlung entfernt.
Unser weiblicher Passagier wird wieder mit einem Pflanzensud betäubt und das Tattoo vervollständigt. Dann bringen zwei Männer sie an Land, was hier recht einfach ist. Den Männern reicht das Wasser hier nur bis zum Bauchnabel. Unter den Füßen haben sie Korallensand, von dem sie hin und wieder einen Plattfisch aufscheuchen.
Wir bleiben bis zum Morgengrauen bei ihr. Dann paddeln wir fort, damit sie uns nicht sieht, wenn sie erwacht. Von hier ist es egal, in welche Richtung sie sich wendet. Irgendwann wird sie auf jemand von uns treffen. Am Nachmittag sind wir schließlich beim Fale Pae’nga –Gemeinschaftshaus- angekommen.