Cherie - 14
„Du bist aus deiner Rolle gefallen, und findest nun nicht mehr hinein,“ konstatiere ich mit weicher Stimme. „Nicht schlimm! Schuld daran bin ja wohl ich. Ich hätte dir das Handy nicht geben, stattdessen das Gespräch selbst abwickeln sollen.
Komm, steh‘ auf, Liebes, und setz dich auf den freien Stuhl neben mir!“
Sie steht langsam auf. Ich halte sie dabei ein wenig fest. Dann setzt sie sich auf den Stuhl und schaut mir in die Augen.
„Du bist jetzt nicht enttäuscht?“ fragt sie leise.
„Nein, Liebes! Du reagierst, wie es dir deine Gefühle vorgeben, und im Moment hat dich der Alltag wieder. Biggi beschäftigt dich.“
„Ja, sorry. Sie hat ein Beziehungsproblem und suchte jemand, bei dem sie sich einmal aussprechen kann…“
„Ist schon okay, Maus. Wir bleiben noch über Nacht, und fahren morgen früh gleich nach dem Frühstück zurück. Dann hörst du dir Biggis Sorgen im Laufe der Woche an. Vielleicht ergibt sich ja irgendeine Lösung im Gespräch. Sonst bittest du halt mich, dass ich mich einschalte – wenn sie das möchte.“
Ich zucke mit den Schultern.

*

Heute ist Freitagabend. Ich stehe auf dem Bahnsteig, an dem Biggis Zug in wenigen Minuten ankommen soll. Dann wollen wir uns ins Bahnhofs-Café setzen und reden.
Als Biggis Zug eintrifft wird es hektisch auf dem Bahnsteig. Da sehe ich sie inmitten der ankommenden Reisenden, die der Treppe zustreben. Ich gehe auf die Zehenspitzen und winke, denn rufen würde bei dem Lärm nichts nützen. Biggi erkennt mich und kommt auf mich zu. Wir begrüßen uns kurz mit einer Umarmung.
„Hey, da bist du ja! Wie war die Reise?“
„Och, es ging…
Wir gehen nun auch zu den Treppen und durch den Tunnel unter den Gleisen auf die Bahnhofsvorhalle zu. Dort steuere ich das Café an und Biggi folgt mir. Wir setzen uns und ich bestelle zwei Espresso. Das weckt die Lebensgeister.
Nach einiger Zeit, in der Biggi gedankenverloren an ihrem Espresso nippt, beginne ich:
„Du hattest Streit mit deinem ‘Hundeführer‘…“
„Ja, der Kerl wollte Sex! Wir spielen schon ein halbes Jahr miteinander. Zusammen sind wir nicht. Nur das Petplay verbindet uns. Es war von Anfang an vereinbart, dass die Sessions nicht weitergehend sein sollten…“
„Du magst ihn menschlich nicht…“
„Nein, wir haben uns bei einem Stammtisch kennen gelernt. Er schien viel Erfahrung zu haben und so hab ich mich auf ihn eingelassen. Du musst wissen, dass ich schon seit zwölf Jahren im BDSM aktiv bin. Ich habe einmal etwas über Petplay gehört und wollte mich darüber informieren. Eine Bekannte schleppte mich zu diesem Stammtisch und er faszinierte mich – fachlich, nicht menschlich! Irgendwie war da etwas an seiner Art, die keinen Funken überspringen ließ.
Aber durch ihn habe ich eine Menge gelernt!“
Ich höre aufmerksam zu. Biggi macht eine Atempause, nachdem die Worte so aus ihr hervor gesprudelt sind, als wäre ein Damm gebrochen.
„Ah,“ mache ich in die entstandene Pause hinein. „Du, ich weiß nicht viel über BDSM. Dreht sich da nicht vieles über Gehorchen, Lob – und Ungehorsam, Strafe?“
„Jaaa, aber eine vereinbarte Tabu-Liste sollte eingehalten werden. Ich weiß, einige Doms sehen die Tabu-Liste als Grenze an, über die die Sub per Training, wie du es beschreibst, hinweg kommen soll. Grenzen erweitern, nennt man das. Aber für mich ist das eine feststehende Grenze!“
„Okay…“ kommentiere ich sie
„Weißt du,“ erklärt sie mir jetzt. „Mein Vater hat mich in meiner Jugend einmal in sein Bett geholt, als meine Mutter im Krankenhaus lag. Seitdem bin ich da sehr empfindlich! Sex gibt es nur, wenn Gefühle füreinander vorhanden sind!“
Ich mache große Augen und versuche meine Hand auf ihre Schultern zu legen.
„Das sehe ich genauso! Hast du denn deiner Mutter davon erzählen können?“
„Ja, es gab einen großen Streit deswegen, als meine Mutter wieder zuhause war. Sie haben sich dann getrennt. Mein Vater hat nur noch Geld geschickt, solange er das musste. Nach meinem 27ten Lebensjahr kam dann nichts mehr.“
„Hast du keine Ausbildung gemacht?“
Biggie lächelt gequält.
„Wozu? Ich hatte doch jeden Monat mein Geld… Ja, heute bereue ich, dass ich so faul war. Aber schau mich doch an! Die Männer fliegen auf mich! Und wenn ich tue, was sie sagen, bekomme ich genug Geld zum Leben. So bin ich durch einen früheren Freund vor Jahren in die Szene gerutscht. Es gab auch Exzesse, aber heute bin ich clean!“
Ich ziehe die Stirn kraus.
„Weißt du, ich hatte auch keine schöne Vergangenheit bevor ich Paul traf. Aber ich habe zumindest gejobbt für meinen Lebensunterhalt. Paul kümmert sich rührend um mich. Ich liebe ihn dafür!“
„Nuuun, wenn man das so sieht, hab ich ja auch gejobbt, die letzten zehn Jahre…“
Ich muss grinsen.
„Okay, und wie stellst du dir deine Zukunft jetzt vor?“
„Keine Ahnung. Vielleicht finde ich ja einen Anderen. Kerle gibt’s wie Sand am Meer!“
„Das ist wohl wahr,“ entgegne ich. „Aber der Richtige… Das ist wie Lotterie spielen… Was hast du denn heute noch vor?“
„Ich werde mir ein Zimmer suchen und morgen zurückfahren. Vielleicht bist du ja am Bahnsteig, um mich zu verabschieden?“
„Du, das geht gar nicht! Wir setzen uns jetzt in den Bus und fahren zu uns nachhause! Du kannst bei uns übernachten, Biggi.“
Als sie abwehrend die Hand hebt, ergänze ich:
„Keine Diskussion! Das ist beschlossene Sache!“
Sie lächelt und sagt: „Danke.“