Cherie - 48
Irgendwann höre ich ein Martinshorn wie aus weiter Ferne in mein Bewusstsein dringen. Die Männer in rot-weißer Kleidung öffnen die Fahrertür und biegen das Dach etwas an. Dann holen sie mich aus dem Fahrzeug und bringen mich in das Krankenhaus in der nächstgelegenen Kreisstadt.
Zwei Tage später komme ich wieder zu mir und man sagt mir, dass ich einen glatten Oberschenkelbruch wenige Zentimeter über dem Knie erlitten habe. Außerdem seien die Rippen geprellt worden. Ich müsse wohl mit einige Wochen Klinikaufenthalt rechnen.
Ich frage nach meinem Handy und den Papieren, aber man zuckt nur mit den Schultern. Da kommen zwei Polizisten zu mir und fragen, ob ich mich in der Lage fühle, ein paar Fragen zu beantworten und an was ich mich noch erinnern kann. Ich erzähle ihnen was ich weiß. Auf meine Frage nach meinen Papieren sagen sie nur, ich könne in der Kreisverwaltung neue beantragen, sobald ich die Klinik verlassen darf.
Am nächsten Tag kommt Dieter mit Biggi und Klaus mit Lisa mich besuchen.
„Wo ist Lena?“ frage ich verstört.
„Keine Sorge, sie ist plötzlich krank geworden,“ beruhigt mich Dieter, „und als ‘Bazillenmutterschiff‘ darf sie nun mal keine Klinik betreten. Sie wird dich aber in ein paar Wochen besuchen dürfen, wenn du bis dahin nicht schon entlassen wirst.“
Mit zweifelnder Miene nehme ich die Information auf. Sie machen mir noch etwas Mut, dann verlassen sie mich wieder. Allzu lange dürften sie sich nicht bei mir aufhalten, erklärt Klaus ihr Verhalten.
Als sie gegangen sind, fällt mir ein, dass ich vergessen habe sie nach einem Handy für mich zu fragen. Das hole ich drei Tage später nach, als Biggi alleine hereinkommt, um mir frische Wäsche zu bringen. Biggi schaut mich komisch an. Ich kann ihren Gesichtsausdruck nicht recht deuten. Aber sie verspricht mir, sich darum zu kümmern.
„Sag Lena, dass ich sie liebe…“ rufe ich ihr noch hinterher, denn plötzlich scheint sie es ziemlich eilig zu haben.
Wieder sind drei Tage vergangen. Diesmal kommt Dieter mit. Während Biggi meine Wäsche in meinem Spind austauscht, wirft sie mir und Dieter verstohlende Blicke zu. Dieter streckt mir nach der herzlichen Begrüßung die Hand entgegen und legt ein neues Handy auf das Schränkchen neben meinem Bett. Dann räuspert er sich.
„Hm, hm,“ macht er. „Wie fühlst du dich?“
„Nun jaaa,“ meine ich. „Das Bein braucht ja seine Zeit. Du weißt, dass sie den Oberschenkel operiert und das Bein direkt am Knochen geschient haben. Aber sonst…“
Ich schaue zu ihm hoch.
„Die Lena,“ beginnt er vorsichtig und fährt leiser fort: „Deine Cherie wird nie mehr wieder kommen…“
Entgeistert schaue ich ihn an. Ich kann nicht glauben, was er mir da sagt. Tränen schießen mir in die Augen. Dieter zieht ein Papiertaschentuch aus dem Behälter auf der Ablage meines Schränkchens.
„Sie ist fort?“ frage ich ungläubig.
„Jaein,“ quält sich Dieter zu einer Antwort durch. „Die Polizei kam an dem Tag deines Unfalls zu uns und fragte nach deiner Lebensgefährtin. Ich schickte sie zu ihr. Bald darauf fuhren sie wieder ab und Lena kam völlig in Tränen aufgelöst zu uns herüber. Biggi beruhigte sie etwas und da erzählte sie, dass du einen Unfall hattest. In der folgenden Nacht schlief sie bei uns im Gästezimmer und frühstückte dann noch mit uns. Sie ging dann die zehn Minuten bis zur Bundesstraße kurz bevor der Bus dort halten sollte.“
Hier macht er eine Pause und Biggi, die inzwischen fertig geräumt hat, kommt her und setzt sich zu mir aufs Bett. Sie zeigt einen Gesichtsausdruck voll tiefer Trauer.
„Was ist mit Lena?“ frage ich und schaue von einem zum anderen.
„Eine halbe Stunde später vielleicht haben wir wieder die Polizei im Haus,“ antwortet Dieter und stockt schon wieder.
„Und?“ frage ich.
„Der Busfahrer hat ausgesagt, sie wäre zusammengebrochen als er die Bushaltestelle erreicht hat. Wie üblich wollte er so halten, dass sie an der mittleren Tür einsteigen kann. Trotz dem sofortigen Bremsmanöver hat er sie überrollt…“
Biggi umarmt mich und Dieter legt mir seine Hand auf die Schulter.
„Lass deine Tränen ruhig laufen! Lass sie laufen!“ sagt er.
„Aber warum?“ schaffe ich noch, von Tränen geschüttelt, zu fragen.
„Keiner weiß genau, warum das passieren konnte. Aber du weißt ja, dass Lena Epileptikerin ist.“
„Aber sie nahm vorschriftsmäßig ihr Medikament! Wir achteten beide darauf!“
„Die Aufregung, der Stress durch deinen Unfall. Die Sorge um dich. Das könnte ein Auslöser gewesen sein für einen erneuten Anfall. Man hätte in so einer Situation vielleicht die Dosis erhöhen müssen. Aber wer konnte das wissen…“
„Mach dir keine Vorwürfe!“ sagt Biggi. „Ein erneuter Anfall kann alle möglichen Gründe gehabt haben. Werde wieder gesund! Das Leben geht weiter! Wir werden die Erinnerung an Lena aufrecht erhalten. Das versprechen wir dir!“
Beim nächsten Besuch kommen Klaus und Lisa, um mich etwas zu beschäftigen und frische Wäsche mitzubringen. Lisa hat ihre Freundin, Anita, mitgebracht. Wir besprechen Geschäftliches und dann fällt Lisa ein:
„Sag‘ mal, Paul, es ist vielleicht etwas früh, danach zu fragen… Aber würde es dir etwas ausmachen, dich verstärkt um Anita zu kümmern, wenn du wieder nachhause darfst? Sie würde sehr von dem Training profitieren und würde sich nicht mehr als fünftes Rad am Wagen fühlen…“
Wenn ich an später denke, an das leere Haus, wo mir aus jeder Ecke Lenas Atem entgegen kommt… Das wäre tatsächlich eine Möglichkeit nicht in Trübsal zu verfallen! Zwar ist da ja noch Tapsy, die sicher von mir verwöhnt worden wäre, aber Anita gäbe mir eine neue Aufgabe.
Ich habe die Antwort wohl etwas zu lange heraus gezögert. Anita schaltet sich ein und sagt:
„Paul, ich möchte mich nicht zwischen dich und die Erinnerung an Lena drängen! Wenn du nicht magst, ist das auch recht!“
„Nein, nein,“ antworte ich schnell. „Ich freue mich auf eine neue Aufgabe. Sie lässt mich die Zeit überbrücken, bis ich den Verlust überwunden habe!“
„Aber ich werde nur zu Wochenend-Sessions kommen, und dann im Gästezimmer übernachten!“ erklärt sie. „Meine 19jährige Tochter würde es nicht verstehen, wenn ich zu einem Mann ziehe, den ich vielleicht mag – aber mehr auch nicht.“
„Das ist völlig in Ordnung, Anita!“ beruhige ich sie.