IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 36
Er bricht ab und schaut mich erwartungsvoll an. Ich fühle die Blicke aller Anwesenden auf mir ruhen. Man erwartet von mir also eine Stellungnahme. Ich beginne:
„Eine höhere Macht hat mich zu euch geführt. Das ist richtig. Ich hätte auch in einem so großen Abstand an diesem Kai’nga –Land- vorbei segeln können, dass ich von der Existenz niemals etwas erfahren hätte. Nun habe ich mich entschlossen, mich in euer Leben einzufügen und Titel zu erwerben. Das bedeutet auch, dass ich euren Lebensstil nicht infrage stelle.
Dennoch reifte in mir die Erkenntnis, dass eure Trennung in eine Männer- und eine Frauengesellschaft nicht der natürlichen Ordnung entspricht. Ich habe mich zweier Wahine angenommen und sorge für sie. Ich fühle mich verantwortlich für ihr Wohl und kümmere mich darum, dass es ihnen bei mir gut geht. Dabei erlebte ich, wie sie förmlich auflebten.
Ihr habt vor Generationen diese Trennung vollzogen aus Angst vor einem schlechten Einfluss der Frauen auf euch; aus Angst, dass der Feind durch seine Frauen euch letztlich doch vernichtet. Aber die Wahine, die heute mit euch auf dieser Insel leben, leben schon seit Generationen hier und haben inzwischen keine Erinnerung mehr daran, dass sie einmal entführt wurden…“
„Das stimmt nicht,“ wirft einer der Kahunas dazwischen, „wir holen auch heute noch vereinzelt eine neue Wahine aus dem Kai’nga der Feinde zu uns. Das müssen wir tun, um Entstellungen bei den neugeborenen Poki tane zu verhindern!“
Ich nicke.
„Ja, da hast du allerdings recht,“ antworte ich dem Mann. „Die Iwipapa sind zahlenmäßig zu klein, um ohne frisches Blut auszukommen – und die Insel ist zu klein, um eine große Bevölkerung zu ernähren. Auch wenn da etwas machbar wäre!“
Der Kuia hat zugehört und schaltet sich jetzt ein.
„Was hältst du für machbar?“
„Ihr habt die Nahrungsbeschaffung mittels Jagen und Sammeln beibehalten, die ihr aus dem Kai’nga eurer Vorfahren kennt. Hier habt ihr das Fischen in Fischteichen und den Anbau von Beeren und Süßkartoffeln in der Nähe eurer Häuser hinzu genommen. Diese Teich- und Gartenwirtschaft hilft euch auf der Insel zu überleben. Ein anderes Inselvolk, die Lapita, hatten schon vor langer Zeit die Feldwirtschaft eingeführt, um mehr Menschen auf den Inseln ernähren zu können. Diese Leute leben allerdings schon seit über hundert Generationen auf den Inseln. Trotzdem – aktuell ist das Problem der Blutauffrischung noch nicht anders zu lösen, als ihr es bisher macht.
Doch wir sind hier aus einem anderen Grund zusammen gekommen. Das Thema unserer Korero –Besprechung- lautete ‚unser Verhältnis zwischen den Tangata und Wahine‘. Meinen Wahine habe ich Namen gegeben und ihnen erlaubt zeitlebens in meinem Fale zu wohnen. Ich halte sie nicht in einem Gehege, sondern lasse sie frei kommen und gehen, wie sie möchten. Sie haben sich entschlossen, außer kleinen Ausflügen in die Umgebung meines Fale, in meiner Nähe zu sein und unter meinem Dach zu schlafen. Sie haben erkannt, dass das Leben bei mir weit weniger gefährlich ist, als draußen im Wald. Sie sind mir zugetan und würden nie etwas tun, das mir schadet, weil sie wissen, dass gleiches für mich ihnen gegenüber gilt.“
„Wie kannst du so sicher sein, dass sie dir nicht eines Nachts giftiges Getier aus dem Wald in die Hängematte tun?“ fällt ein anderer Kahuna zweifelnd ein. „Die Dämonen der Nacht haben eine große Macht und unsere Feinde sind durch ihre feindselige Gedankenwelt besonders anfällig für die Macht der Dämonen aus der Unterwelt!“
„Meine Wahine haben mich schon mehr als einmal vor den Gefahren des Waldes gewarnt und auch schon aktiv unter Einsatz ihrer Gesundheit vor Gefahren bewahrt. Die Kiai –Schutzgötter- aus der Oberwelt sind mächtiger!“
„Genau wie das große Meer in Wellen auf den Strand läuft, können die Dämonen auch einmal stärker werden!“
„Aber niemals dauerhaft!“ erwidere ich. „Dann gewinnen die Schutzgötter wieder! Seid nicht so ängstlich. Seid mutig, wie es Männer sein sollen! Bietet dem Leben die Stirn und helft den Kiai –Schutzgötter- durch eurer Handeln das Gute in der Mittelwelt zu festigen!“
„Was sollen wir deiner Meinung nach tun?“ schaltet sich der Kuia wieder ein.
„Ich habe in den vergangenen Monaten mit dem Kahuna, dem die Schule für Wahine gehört, einiges auf die Beine gestellt. Lasst euch von ihm erzählen,“ antworte ich, weil ich mich nicht überhöhen will. Einer der ihren kann sie sehr viel besser überzeugen, denke ich.
„Das Ergebnis eurer Zusammenkünfte hat schon lange für Gesprächsstoff gesorgt. Darum sitzen wir ja heute hier. Wir denken darüber nach, deinen Vorstellungen zu folgen in Bezug auf die Wahine.“
Ich lächele erleichtert.
„Der Kahuna hat die Wahine mitgebracht, die inzwischen genauso frei bei ihm leben wie meine bei mir. Die Hui –Versammlung- kann sich also überzeugen, dass es Freude macht Wahine bei sich wohnen zu lassen.“
Bei diesen Worten wende ich mich halb um. LELE und RAKA‘U haben sich auf einem Ballen Blätter an der Außenwand des Fale Pae’nga niedergelassen und dösen vor sich hin. HETU’U und RA’A liegen zusammengekauert davor.
„LELE, RAKA‘U, ZU MIR!“ sage ich.
Beide heben kurz hintereinander den Kopf, stehen auf und nähern sich mir. Bei mir angekommen zeige ich rechts und links neben mich und sage:
„LELE, RAKA‘U, MÜDE!“