IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 38
In den folgenden zwei Stunden sitzen wir beim Essen zusammen. Ich frage den Kahuna der Schule:
„Hat das heutige Treffen eigentlich etwas bewirkt? Irgendwelche Vereinbarungen sind ja nicht getroffen worden.“
„So schnell geht das auch nicht. Bisher liefen Gerüchte hinter vorgehaltener Hand von einem Tangata zum Anderen. Heute haben wir den Kahunas -Experten/Weisen- der Iwipapa gezeigt, wie man auch anders mit den Wahine umgehen kann. Ich bin sicher, dass die sechs Wahine in der Schule, die noch keinen Tangata haben, in den nächsten Tagen einen bekommen werden. Wir werden bald weitere Wahine aus dem Wald brauchen. So werden nach und nach alle Wahine einen Tangata bekommen.“
Für den Augenblick bin ich zufrieden. Die ‚Geschichte‘ hat eine in meinen Augen positive Wendung bekommen.
Während ich in Gedanken versunken bin, treffen RA’A und HETU’U ein. HETU’U stupst den Kahuna von hinten an. Der Mann dreht sich um und sieht RA’A neben HETU’U stehen. Zwischen ihren ‚Vorderbeinen‘ liegt ein toter Waran von gut einem Meter Länge. Sofort erhebt der Kahuna das Wort und zeigt auf seine Wahine:
„Hört ihr Männer der Iwipapa! Schaut her und überzeugt euch selbst! Meine Wahine haben ihren Auftrag erfüllt und einen Waran gejagt.“
Die anderen Ratsmitglieder werden aufmerksam. Rufe des Erstaunens sind zu hören. Der Waran geht durch mehrere Hände, dann wird er den Poki tane übergeben, damit sie ihn ausnehmen und das Fleisch portionieren.

*

Tatsächlich haben in den darauffolgenden Tagen alle Wahine aus der Schule des Kahuna neue Herren. Ich bringe den Männern in einer kurzen Unterweisung bei, wie der tägliche Umgang mit ‚freilebenden‘ Wahine aussehen sollte und biete ihnen an, mich gerne von Zeit zu Zeit zu besuchen. So könnten Probleme des neuen Alltags in den Fale besprochen werden und sie könnten an LELEs und RAKA‘Us Beispiel erleben, wie man mit ihnen umgehen kann. Dabei vermeide ich es tunlichst, die Wörter „Du musst…“ zu gebrauchen. Die Tangata sind stolz. Sie lassen sich nichts sagen, allenfalls raten.
Ein paar Wochen später fragt mich der Kahuna der Schule, ob LELE und RAKA‘U nicht gemeinsam mit RA’A und HETU’U in den Wald gehen könnten, um nach weiteren Wahine Ausschau zu halten.
„Gerne,“ stimme ich dem Vorschlag zu. „Aber sie sollten alleine gehen! Lass deine Poki tane keine Treibjagden veranstalten wie es früher üblich war. Die Wahine sollen freiwillig kommen und sich von dir schulen lassen.“
Nach seiner Zustimmung bringen unsere vier Wahine täglich ein bis zwei Wahine aus dem Wald in die Schule. Nach einigen Monaten haben fast alle Tangata ihre Wahine. Freudig sehe ich, wie verantwortungsbewusst und umsichtig einerseits und vertrauens- und hingebungsvoll andererseits beide Geschlechter miteinander umgehen.
Hier auf der Insel hat man auch viel mehr Zeit füreinander. Einen Zeitdruck, wie in der sogenannten zivilisierten Welt, kennt man hier im Alltag nicht. So sehe ich nicht selten Pärchen über den Strand spazieren, scheinbar ohne einer speziellen Tätigkeit nachzugehen.

*

Etwa anderthalb Jahre später spricht mich der Kahuna, der mich mit seinem Vaka –Auslegerkanu- vor langer Zeit aus dem Meer gefischt hat, auf eine besondere Expedition an:
„Könntest du deine Wahine zwei Wochen alleine lassen?“
Ich lege erstaunt meine Stirn in Falten.
„Warum sollte ich?“
„Wir haben vor, eine Expedition in das Kai’nga –Land- unserer Ahnen zu machen und von dort frisches Blut auf diese Insel zu bringen. Die Sterne stehen gut dafür!“
„Und die Reise kann man nur ohne Wahine durchführen?“
„Vakas sind für Wahine tabu. Sie mit aufs große Wasser zu nehmen, wäre schlecht für jedes Vorhaben! So würde man keine Fische fangen, kein Glück beim Handeln haben und auch die Expedition würde scheitern!“
„Okay,“ sage ich. „Ich kann verstehen, dass die Wahine die Tangata von ihrem Tun ablenken könnten. Auf dem Meer muss jeder Handgriff sitzen. Ablenkung wäre da sicher nicht gut.
Ich werde meinen Schülern Bescheid sagen und mich von LELE und RAKA‘U vorübergehend verabschieden, denn mich interessiert schon, wie ihr es anstellt eine Wahine auf die Insel zu bringen, die mit keinem Iwipapa irgendwie verwandt ist.“

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Mein Name ist Mary Alotao. Ich bin in einem Fischerdorf in Papua-Neuguinea aufgewachsen. Mit Hilfe des Priesters hier und einer internationalen Hilfsorganisation bin ich mit elf anderen Kindern aus dem Ort in ein Internat nach Port Moresby gekommen. Dort lernen wir viel. Ich habe mir vorgenommen, später einmal in der Touristik zu arbeiten. Als Guide kann ich Touristen führen und die Fischer im Dorf können sich mit Ausflugsfahrten ein Nebeneinkommen verschaffen, wenn ich Touristen in mein Heimatdorf bringe. So kann ich dann meine Eltern auch unterstützen, wenn sie alt geworden sind.
Gerade hab ich wieder Ferien und verbringe sie – wie immer – bei meinen Eltern. Ich spiele Beach-Volleyball mit den anderen Internatsschülern aus meinem Dorf. Das Spiel haben wir im Sportunterricht kennengelernt. Abends, wenn mein Vater vom Fischen kommt, hilft die ganze Familie und damit auch ich, den Fang zu versorgen. So falle ich stets spät müde ins Bett.
Ich weiß nicht, wann ich für mein Schicksal ausgesucht worden bin. Ich habe nicht bemerkt, dass man auf mich aufmerksam wurde.
Eines Morgens bin ich später aufgewacht. Ich schwinge die Beine aus dem Bett und stehe auf. Sofort muss ich mich abstützen und lasse mich auf das Bett zurückfallen. Ich verstehe nicht, wieso ich heute Morgen so benommen bin. Nach einer Weile versuche ich wieder aufzustehen. Diesmal klappt es. Ich ziehe mir etwas an und gehe zum Strand hinunter. Papa ist schon längst mit seinem Boot draußen. Meine Mitschüler haben heute etwas anderes vor, also werfe ich mich in die Brandung und schwimme etwas. Zurück am Strand fühle ich mich schon wieder wohler.