IWIPAPA - Stamm der Mutter Erde - 40
Sie trägt ein Outfit aus netzförmig geflochtenen Lederschnüren, an dem kleine Taschen befestigt sind. Nun richtet sie sich auf den Knien auf und nimmt Stücke getrockneten Fisches und Beeren aus den Taschen. In einer Tasche hat sie sogar eine kleine Flasche aus Ton, die sie öffnet und mir daraus zu trinken anbietet. So frühstücken wir erst einmal ausgiebig auf der taufeuchten Wiese.
Schließlich stupst sie mich an und deutet mit einer Hand auf den Wald. Sie macht auf allen Vieren einen Schritt auf die dichte Vegetation zu und wendet sich dann wieder nach mir um. Wieder deutet sie auf den Wald. Also stehe ich auf und folge ihr.
Immer wieder muss ich mich bücken, um unter den Ästen hindurch zu kriechen, damit ich ihr folgen kann. Schließlich bin ich es leid und gehe ebenfalls auf Hände und Knie. Ich imitiere den Gang meiner Führerin und frage mich schon die ganze Zeit, warum sie kein Wort spricht. Trotzdem sind ihre Mimik und ihre Gesten so beredt, dass ich sie wunderbar verstehe unterwegs. Sie achtet sehr auf mich und warnt mich rechtzeitig vor Gefahren. Dennoch wird mein Informationsbedürfnis mit der Zeit so groß, dass ich einfach stehen bleibe und mich hinsetze.
Sie wendet sich wieder einmal zu mir um, und kommt zu mir zurück. Dann stupst sie mich an und weist mit der Hand tiefer in den Wald hinein. Ich schüttele den Kopf, lege meine Hand auf mein Herz und sage: „Mary.“
Dann weise ich auf sie und frage: „Wer bist du?“
Sie steht stumm auf allen Vieren vor mir. In ihrem Gesicht arbeitet es. Also stelle ich mich wieder vor, indem ich auf mich zeige und meinen Namen nenne. Dann zeige ich auf sie und mache ein fragendes Gesicht. Plötzlich sagt sie:
„LELE.“
Aha, meine Führerin heißt also Lele. Ich will fragen, wohin sie mich führt. Da höre ich Rascheln im Laub, das den Waldboden bedeckt. Kurz darauf stoßen drei weitere Frauen auf allen Vieren zu uns. Das verwirrt mich. Wo bin ich denn hier gelandet? Gehen hier alle Menschen auf allen Vieren? Sicher, das scheint die effektivste Fortbewegung in dieser dichten Vegetation zu sein. Ich empfinde es aber trotzdem als ungewöhnlich. Ich könnte mir nicht vorstellen, dauerhaft auf allen Vieren zu gehen. Dann würde ich lieber dem Wald fernbleiben, oder nur kurzfristig zum Sammeln von Früchten hinein zu gehen.
Die Vier begrüßen sich herzlich, dann nehmen sie mich in ihre Mitte. Nun bin ich gezwungen weiter zu gehen. Lele bleibt an der Spitze, eine setzt sich hinter mich und treibt mich mit Stupsern immer wieder vorwärts und die beiden anderen bleiben dicht an meinen Seiten.
Ich habe keine andere Wahl, als ihnen auf allen Vieren zu folgen. Nach einigen Stunden, in denen sie mir verschiedene Pflanzen gezeigt und dann den Kopf schüttelnd mich davon weg gedrängt haben, machen wir Rast. Auch die Anderen haben Proviant dabei, den wir uns teilen. Hinzu kommen frisch gepflückte Früchte. So zeigen sie mir giftige Pflanzen und solche, die man essen kann. Viele der essbaren Früchte sind mir vom Markt in unserem Dorf und der Küche in meinem Internat bekannt.
Genauso machen es meine vier Begleiterinnen, sobald wir ein Tier im Wald entdecken. Darüber vergeht der Tag. Als die Dämmerung anbricht erreichen wir eine Lichtung im Wald, auf der eine Hütte im traditionellen Baustil mit hochgezogenen Giebeln, steht. Auch sehe ich einen Garten mit verschiedenen Kulturpflanzen.
Meine Begleiterinnen führen mich auf das Haus zu. Es steht auf Pfählen. Der größte Raum unter dem Haus bildet ein eingezäuntes Gehege. Werden hier auch Nutztiere gehalten?
Ich habe mir den ganzen Tag über Gedanken gemacht, ob die Frauen die einzigen Menschen auf dieser Insel sind. Vielleicht sind es Schiffbrüchige? Dann aber denke ich darüber nach, dass ich doch von Männern entführt worden bin. Jedenfalls hat mich ein Junge während der Reise regelmäßig verpflegt. Sonst habe ich niemand zu Gesicht bekommen. Auch hat mich niemand angefasst. Dann wache ich hier auf und treffe am zweiten Tag vier Frauen, die sich noch dazu wie Tiere auf allen Vieren fortbewegen. Jetzt, als es langsam dunkel wird, ist das Haus ihr Ziel. Das können sie unmöglich selbst errichtet haben.
Sie führen mich in das Gehege und nehmen einen Stapel Matten und Decken aus einer Ecke, die sie auf dem Boden ausbreiten. Dann geben sie mir zu verstehen, dass wir hier schlafen sollen. Sie legen sich an den Eingang des Geheges und decken sich zu. Nach einem Seufzer mache ich es ihnen nach, gespannt darauf, was mir wohl der nächste Tag bringt.
Lele gibt mir noch ein Betthupferl, eine Kleinigkeit zu essen, bevor ich einschlafe.
Am nächsten Morgen habe ich leichte Kopfschmerzen. Ich drehe mich unter der Decke und halte die Augen noch eine Weile geschlossen. Ich mag noch nicht aufstehen und stelle mich schlafend, weil ich Geräusche um mich herum wahrnehme. Meine Begleiterinnen scheinen die Matten und Decken wieder in die Ecke zu räumen. Ich nehme mir vor, es ihnen gleich nach zu machen, wenn die Kopfschmerzen abgeklungen sind.
Aber die Geräusche wollen nicht enden. Neugierig blinzele ich, um mich zu orientieren. Schlagartig bin ich hellwach und stemme mich hoch. Die Kopfschmerzen scheinen durch meine plötzliche Aktion stärker zu werden. Ich schüttele den Kopf. Was ich sehe, lässt Furcht in mir aufsteigen.
Ich liege in einem engen Käfig, den man über mich gestülpt hat, während ich geschlafen habe. Unter der Decke bin ich nackt. Meine Kleidung hat im Wald zwar arg gelitten, aber ich habe immerhin eigenen Stoff an meinem Körper gehabt, der mir jetzt fehlt. Unwillkürlich ziehe ich die Decke höher, wodurch meine Füße frei wurden.
Die Frauen sitzen zusammen und frühstücken. Ich selbst werde von zwei Jungen durch die Stäbe meines Käfigs beobachtet. Sie sitzen auf dem Boden neben dem Käfig.
Ich versuche aufzustehen, aber mir gelingt es nicht viel höher zu kommen, als in den Vierfüßler-Gang, in dem ich mich gestern schon den ganzen Tag durch das Unterholz des Waldes bewegt habe. Die Beiden schauen sich an, dann steht einer der Beiden auf und geht auf einen schrägen Stamm zu, in den Stufen hinein geschlagen wurden. Über die Treppe verschwindet er im Haus und kurz darauf kommt er in Begleitung von zwei älteren Männer zurück.
Die Männer betreten das Gehege und lassen das Tor hinter sich offen. Sie tragen einen Wickelrock, wie er heute noch von vielen Ureinwohnern auf den Inseln und im Inneren meiner Heimat getragen wird. Einer der Beiden ist von heller, sonnengebräunter Haut, der andere hat die gleiche dunkle Hautfarbe wie auch ich.
Der Letzere beugt sich herunter und greift meine Fußgelenke. Ich versuche mich zu befreien, komme aber nicht los. Dafür überschütte ich den Mann mit einer Schimpfkanonade. Er lässt los, erhebt sich wieder und beginnt zu sprechen:
„Inu –Hund-,“ sagt er nur.
Mir fällt ein, dass ich am rechten Fußgelenk eine Tätowierung trage, den Abdruck einer Hundepfote.