Samstag, 24. Oktober 2020
Suìmh Aille -20
Genau in diesem Moment sagt Herr Ciaraì „SUIGH!“ und schiebt mir lächelnd die Beere in den Mund. Danach streicht er mir sanft über den Kopf und sagt:
„Gutes Mädchen, Susi! Good girl! Genau das will ich erreichen, wenn ich SUIGH! sage.“
„Suigh bedeutet also SITZ!“ antworte ich.
„Ja, das ist das irische Wort für es. Du im Grunde nicht brauchst zu lernen Irisch.“
Er macht eine kurze Pause. Dann sagt er:
„Das Wort ‚FAN!‘ auf Deutsch bedeutet ‚BLEIB!‘ Das heißt, du sollst bleiben STEHEN, wo du bist. Aber wenn du dich setzt oder legst bis ich bin bei dir, das ist okay auch.“
So führt er mich an diesem Tag durch etwa 24 verschiedene Kommandos. Das Kommandotraining unterbricht er ab und zu mit Hundespielen, wobei er dann auch die beiden anderen Doggies mit einbindet, sonst wäre Eithne und Runa der Tag bestimmt langweilig geworden. Zum Mittag- und Abendessen bringen mich beide wieder in die Herberge zurück.
Am Abend dieses Tages, mein zweiter Tag in Suìmh Aille und insgesamt mein vierter Tag in Irland, resümiere ich im Bett vor dem Einschlafen, ob dies das Leben ist, das ich mir erträumt habe. Ich bin mir dessen noch nicht sicher. Was mir trotz der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Leute hier noch fehlt, ist ein Mann, den ich lieben kann.
Denn was ich hier in der Hundeschule lerne, kann ich nur bedingt in einer späteren Beziehung mit einem sogenannten „Owner/Caregiver“ gebrauchen. Es sei denn, dieser Mann wäre Einwohner von Suìmh Aille. Alle Herrchen in Deutschland haben individuell unterschiedliche Meinungen zum Dogplay.
Irgendwann bin ich doch eingeschlafen.
Wie lange ich schließlich geschlafen habe, kann ich nicht festmachen. Die Wandlampen, die Kerzen imitieren, werden mit dem Tageslicht hell. Da die Zimmer in diesen Tithe -Häusern- fensterlos sind, ist das tagsüber eine große Hilfe. Muss ich nachts ins Bad, kann ich natürlich das Licht über einen Schalter steuern.
Als ich wach werde, ist es noch dunkel. Ich habe wieder von den Wölfen geträumt, die mein zweites Ich gerettet und ernährt haben bis es wohl an einer Infektion gestorben ist. Ich habe alles durch die Augen des Kleinkindes erlebt. So habe ich auch erlebt, wie es seinen Körper verlassen hat. Es ist über dem Wald geschwebt und dann davon getrieben.
Unter ‚mir‘ sehe ich schneebedeckte Gipfel, dann hügeliges Gelände mit Feldern und Wiesen, sowie kleinen Wäldern. Dann erkenne ich großes Wasser, ein Meer und wieder eine Küste. Schließlich kann ich eine kleine Insel erkennen mit schroffen Felsen und einer endlosen Treppe, die von einer kleinen Landungsstelle hochführt. Am Ende der Treppe erkenne ich bienenstockförmige Bauten und einen von Steinplatten umzäunter Platz, auf dem weitere Steinplatten stehen, deren Beschriftung ich nicht lesen kann. Dort steht auch ein ungewöhnlich geformtes Kreuz. Mein Blick fällt auf die nahe Steilküste.
In diesem Moment wache ich auf und bin im ersten Moment etwas verwirrt. Ich brauche einige Momente, um zu realisieren wo ich bin und was ich hier mache. Dann fällt mir mein aktueller Traum wieder ein. Will mein zweites Ich mir sagen, dass hier in Suìmh Aille meine neue Heimat ist, mein Curadh auf mich wartet, der selbst noch nicht von seinem Glück weiß?
Ich versuche wieder einzuschlafen, aber es wird wohl nur ein ‚Vor-mich-hin-dösen‘ daraus. Als es im Zimmer zu dämmern beginnt, stehe ich auf und mache mich im Bad frisch. Danach gehe ich in die Halle hinunter. Ich bin früh dran heute Morgen. Das nutze ich, um mich hier etwas umzuschauen.
Ein Buch über die Gegend hier fällt mir ins Auge. Ich nehme es aus dem Regal und setze mich daneben, an die Wand gelehnt. Bald habe ich mich so festgelesen, es ist so interessant in meinen Augen, dass ich den Mac Léinn nicht bemerke, der meinen Frühstückstisch deckt.
Erst als er mich anspricht, schaue ich auf und rutsche automatisch vom Hocker herunter auf meine Knie. Das Buch lege ich neben mich und gehe auf allen Vieren zum Tisch. Der junge Mann macht zuerst große Augen, dann lächelt er und fragt, ob ich eine Babhla -Napf- haben möchte.
Ich werfe den Kopf hoch und sage „Bow!“ Der Mac Léinn bringt das Frühstück wieder in die Küche zurück und kommt wenig später mit einem gefüllten Napf zurück, in dem sich das Frühstück von eben kleingeschnippelt befindet. Eine Flasche mit Mundstück stellt er zum Trinken daneben und wünscht mir lächelnd:
„Guten Appetit.“
In dieser Situation, die mein inneres ‚Teufelchen‘ heraufbeschworen hat, finden mich kurz darauf Eithne und Runa, die mich abholen wollen. Sie kommen die Treppe aus dem Untergeschoss hoch, als ich gerade fertig bin mit frühstücken.
„Ah,“ meint Eithne lächelnd. „Du hast dich entschlossen, den Tag gleich als Doggie zu beginnen.“
Ich lächele zurück und antworte:
„Das geschah eben spontan. Ich weiß auch nicht, wieso.“
Sie schüttelt den Kopf:
„Du brauchst dich für gefühlsbedingte Handlungen als Doggie nicht entschuldigen! Das ist etwas anderes als in der rationalen Welt…“
„Okay,“ gebe ich zurück. „Weißt du schon, was heute auf dem Plan steht?“
„Nun,“ sagt sie. „Du hast gestern Kommandotraining gehabt. Ich denke, der Curadh will heute Morgen sehen, was du davon behalten hast und eventuell korrigieren. Wie dann der weitere Tag aussieht, entscheidet Curadh Ciaraì. Du musst ja auch bald zum Flieger zurück!“
Ich nicke und folge den Beiden zur Schule. Wieder nehmen wir den Weg durch die ‚Unterwelt‘ von Suìmh Aille. In der Halle der Hundeschule wartet heute Curadh Murchardh auf uns, der im Ort Arzt -Dochtuir- und Heiler Leigheas- ist. Das heißt, dass er als praktischer Arzt und Heilpraktiker firmiert, mit modernen Begriffen bezeichnet. Er führt mich durch das komplette Programm der Hundekommandos, und korrigiert manches, was ich ihm zeige. Dann ist es schon Mittag und er lässt drei Mahlzeiten für uns Doggies aus der Taverne bringen.
Nach dem Mittagessen aus einer Schale vom Boden gibt uns Curadh Murchardh frei. Wieder streifen wir auf allen Vieren durch die Umgebung von Suìmh Aille und haben Spaß zu Dritt. Schnell ist schon Abend. Ich weiß überhaupt nicht, wo die Zeit geblieben ist, als Eithne und Runa mich zur Herberge zurückbringen. Sie verabschieden sich herzlich von mir, denn am Morgen des nächsten Tages soll ein Wagen vom Teach Tuaithe Ciaraì -Landhaus Kerry- kommen, dem früheren Sitz der Grafen von Kerry, und mich zum Flughafen nach Dublin bringen.

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