Dienstag, 28. Juli 2020
Nicci (12)
„Das heißt, ich muss nicht ständig auf allen Vieren sein, wenn wir zusammen sind?“
„Wenn sogenannte Normalos dabei sind oder hinzu kommen könnten – nicht! Ich weiß, dass dir der Vierfüßler-Gang hilft, ins Dog-Space zu finden. Auf zwei Beinen im Dog-Space zu sein, sind gewissermaßen ‚höhere Weihen‘. Also sind wir gleich im Park bloß ein fast normales Paar bei einem Spaziergang…“
„Das heißt, ich darf aufstehen?“ frage ich noch einmal nach.
„Aber ja,“ bestätigt er.
Peter hilft mir beim Aufstehen, dann zieht er seinen Blouson über und hängt sich die Reisetasche über die Schulter. Draußen geht er zuerst zum Auto und verstaut die Tasche, anschließend folgt er mir über den Weg aus feinkörnigem Kies in den Park, der von der Häuserzeile von der Straße getrennt ist. Es handelt sich um eine große Grasfläche, auf der sich mehr oder weniger dicht stehende Laubbäume befinden. Dazwischen verästeln sich mehrere Wege, die zum Flanieren und joggen einladen.
Nach einer Weile beginnt Peter:
„Wie hat dir eigentlich das Wochenende gefallen?“
„Es war lehrreich und spannend,“ antworte ich und schaue Peter dabei an. „Auch die vergangene Nacht hat mir sehr gefallen!“
„Ich bin dir nicht zu alt?“ fragt er und schaut erwartungsvoll.
Ich muss lachen, lehne mich bei Peter an und schlinge meine Arme fest um seinen Brustkorb.
„Bist du nicht!“ antworte ich mit Nachdruck. „Du bist fürsorglich, nicht so egozentrisch wie viele in meinem Alter! Ich habe dich sehr gern!“
Er lächelt fröhlich und meint: „Körperliches und geistiges Alter müssen auch nicht immer konform gehen. Ein reifer Mann kann innerlich ein Junge geblieben sein. Du hast aber auch erlebt, dass ich ein hohes Verantwortungsbewusstsein bekommen habe, im Laufe meines Lebens – das dir nun zugutekommt.“
Dabei grinst er und bückt sich nach einem am Boden liegenden Zweig, den er in ein handliches Stück Holz bricht.
„Dem innerlichen Jungen ist gerade eine Idee gekommen,“ meint er und seine Augen blitzen.
Er zeigt mir den Zweig mit den Bruchstellen an beiden Enden, holt aus und wirft ihn auf die Wiese neben den Weg. Dann schaut er mich an, blinzelt und sagt „HOL!“
Ich schaue dem Zweig hinterher. Als dieser auf dem Boden aufkommt, schaue ich noch einmal mit großen Augen zu Peter auf. Aber er nickt mir nur zu und wiederholt noch einmal „HOL!“
Also laufe ich auf die Wiese, dorthin wo der Zweig gelandet sein muss. Ich sehe ihn liegen und bücke mich danach, um ihn aufzuheben. Dann laufe ich zu Peter zurück und gebe ihm den Zweig. Er nimmt ihn und lässt ihn auf dem Weg fallen. Dann nimmt er mich in den Arm, streicht mir mit der freien Hand zärtlich durch mein Haar und sagt:
„Als mein Doggie trainierst du nicht nur die nonverbale Kommunikation, dann die Hundekommandos – das Dogswimming… Wir spielen auch miteinander und lockern damit das Training auf. Gestern war es das Ballspiel, heute mal das Apportieren. In jedem Fall beschäftige ich mich mit dir, lasse dich nicht links liegen, weil mich etwas anderes als du mehr interessiert!“
Daraufhin steige ich auf meine Zehenspitzen und gebe Peter einen Kuss, den er gerne annimmt, und mich dabei fest umarmt. Ich frage zwinkernd:
„Noch einmal?“
„Gern!“ meint Peter, bückt sich nach dem Zweig neben uns auf dem Weg und wirft ihn wieder auf die Wiese.
Ich laufe dem Holz hinterher, bücke mich danach und bringe es ihm zurück. Peter streckt mir die Hände entgegen, um das Holz in Empfang zu nehmen, aber ich habe mich blitzartig umentschieden.
Ich zeige ihm das Holz und laufe weg. Er steht erst einmal unentschlossen da, dann folgt er mir. Ich lasse mich einfangen und das Holz abnehmen. Dann hänge ich aber schon wieder an seinem Hals und fordere einen Kuss als Belohnung, den er mir bereitwillig gibt. Schließlich gehen wir Hand in Hand zum Parkplatz zurück. Hier steigt er in sein Auto und fährt los, nachdem er mir ein letztes Mal zugewunken hat.
Ich gehe wieder ins Haus zurück. Ich fühle mich gerade irgendwie leer. Als hätte man mir etwas weggenommen.

*

In den folgenden Tagen ertappe ich mich mehrfach, dass ich mit Peter über Whats app Dinge bespreche, die ich sonst mit Alex, meinem Bruder, besprochen hätte. Er zeigt mir Lösungsmöglichkeiten verschiedener Alltagsprobleme und macht mir Mut, sie anzugehen. Anderenfalls würde er sich ihrer annehmen, wenn er wieder zu mir kommt, verspricht er mehrmals.
Dann fragt er mich, ob ich nicht auch einmal zu ihm kommen wollte. Bei ihm gäbe es eine Wald- und Heidelandschaft, die nur zum Teil bewirtschaftet sei. So könnte es vorkommen, dass man tagelang durch Wälder streifen könnte, ohne jemandem zu begegnen – wenn man die richtigen Ecken kennt.
‚Die gibt es sicherlich überall in Deutschland,‘ denke ich mir, bin aber dennoch neugierig geworden.
Zwei Wochen nach unserem ersten Treffen, bekomme ich mein kleines Gehalt als Büromaus, und kann mir die Bahnfahrt leisten. Peter zeigt sich erfreut, mich bei sich begrüßen zu können, und ist auch gar nicht ungeduldig, dass er nun eine Woche länger auf mich warten muss. Ich bin so froh, ihn kennen gelernt zu haben!
Am Donnerstag nach Feierabend fahre ich mit dem Bus zum Bahnhof und schaue mir die Verbindungen an. Da der Fahrplan mich etwas verwirrt, gehe ich doch zum Schalter und warte in der Reihe bis ich dran bin. Dann lasse ich mir für den darauffolgenden Tag gleich nach Feierabend eine Zugverbindung heraussuchen, die ich auch sofort buche. Mit der Fahrkarte in der Hand fahre ich nach Hause und informiere Peter unterwegs aus dem Bus darüber. Er verspricht mir zur Ankunftszeit am Gleis zu stehen.
Ich muss einmal umsteigen und dort eine knappe Stunde warten, was mir wie eine kleine Ewigkeit vorkommt. Dann geht es mit einem Zug weiter, der an jedem kleinen Bahnhof hält. Auch ist die Gegend hier viel dünner besiedelt, als ich das von klein auf kenne. Schließlich erreicht der Zug meinen Zielbahnhof und ich steige aus. Aus Richtung des Bahnhofsgebäude sehe ich Peter auf mich zu kommen und gehe ihm freudig entgegen. Wir begrüßen uns mit einer Umarmung.
Er nimmt mir meine kleine Reisetasche ab und geht mit mir zum Bahnhofsgebäude zurück. Kurz davor biegt er in Richtung eines großen Kreisverkehrs ab. Dazu gehen wir neben dem Gebäude durch ein Tor im Zaun. Draußen überqueren wir die Straße, auf der auch die Busse ihre Passagiere zum Bahnhof bringen. In der Mitte des Kreisverkehrs ist der Pkw-Parkplatz. Dorthin führt er mich. Dann fahren wir in einen kleinen Ort, etwa zwanzig Minuten entfernt, wo er vor einem Haus mit Einliegerwohnung parkt.
Nachdem wir ausgestiegen sind führt er mich zu dieser Wohnung und schließt mir auf. Er zeigt mir die gemütlich eingerichtete Zweizimmerwohnung und bemerkt dabei, dass sich das Wohnzimmer mittels Schlafcouch auch in ein Schlafzimmer verwandeln ließe. Ich schaue ihn schräg von der Seite an und frage:
„Magst du mich nicht in deiner Nähe haben?“
Er sieht wohl meinen enttäuschten Gesichtsausdruck und nimmt mich in die Arme.



Nicci (11)
„Ja, gern,“ lächele ich ihn an. „Ich weiß ja noch nicht viel übers Dogplay. Einiges hast du mir in den letzten Wochen ja schon erzählt. Gestern konnten wir noch nicht viel machen…“
„Ich bin eben keiner, der gleich in die Vollen geht. Gestern, kaum dass wir uns getroffen hatten, wollte ich dir Gelegenheit geben, mich menschlich kennenzulernen. Ich bin ein ganz normaler Mann. Ich bin kein Übermensch, kein Halbgott. Später dann, hier in deiner Wohnung habe ich dir gezeigt, wie ein Hund, der ja nicht reden kann, sich verständigt. Dabei habe ich dir noch längst nicht alle Gesten gezeigt. Das wollte ich heute Vormittag fortsetzen. Außerdem habe ich ein Schaublatt da. Das kannst du dir gerne irgendwo aufhängen und immer mal wieder drauf schauen. Damit wäre die Probesession gefüllt.“
Peter macht eine kleine Pause, in der er mich prüfend anschaut. Dann redet er weiter:
„Wir bleiben doch in Verbindung?“
Ich nicke, während ich kaue.
„Ich beantworte dir gerne alle Fragen, die dich umtreiben!“ redet er weiter. „Und wenn du eine Fortsetzung magst, sag einfach Bescheid und wir vereinbaren wieder ein Wochenende. Wenn du dich ohne Worte verständigen kannst, beginnen wir mit dem Kommandotraining. Das dauert auch seine Zeit. Zwischendrin machen wir auch mal Exkursionen in die Umgebung, damit wir richtig Apportieren spielen können und ähnliches.“
Aufmerksam höre ich ihm zu. Bei der letzten Eröffnung bleibt mir der Mund offenstehen.
„Bin ich dann in so einem Transportkäfig?“
„Ich zwinge dich zu nichts!“ antwortet Peter mit ernstem Ton. „Wenn du das mal ausprobieren möchtest, sagst du es mir einfach.“
„Okay. Das mache ich bestimmt!“ sage ich und nicke.
Wir frühstücken zu Ende. Danach hilft mir Peter, den Tisch abzuräumen und die Lebensmittel zurück zu stellen, ganz Gentleman. Mike hatte sich nie dazu herab gelassen…
Anschließend setze ich mich auf die Couch und ziehe die Knieschoner von Peter über. Danach gehe ich auf alle Viere und schaue zu Peter auf. Der bückt sich, holt den länglichen Ball wieder aus seiner Reisetasche und zeigt ihn mir. Er ruckt mit dem Arm vor und wieder zurück. Hm, was will er jetzt von mir? Ah, ich beuge meine Ellbogen und mache mich dadurch vorn kleiner. Die Spielverbeugung!
Peter lächelt über das ganze Gesicht und wirft mir den Ball zu. Ich spiele wieder kurze Zeit damit, indem ich ihn zwischen meiner rechten und meiner linken Faust hin und her stoße. Peter schaut zu. Plötzlich stoße ich ihn in seine Richtung. Er hält den Ball mit dem Fuß auf und stößt ihn wieder zu mir zurück. So geht das Spiel ein paar Minuten hin. Dann steckt er den Ball wieder in die Reisetasche zurück und fragt:
„Wenn ich eine fremde Person wäre, die du noch nicht kennst, und ich locke dich zu mir… Was machst du?“
Ich schaue Peter an, und runzele die Stirn bei offenem Mund. Er lacht und meint:
„Okay, dann sag es mir verbal!“
Erleichtert antworte ich:
„Ich reagiere nicht auf das Locken! Bist du anwesend, schaue ich zu dir und hoffe, du gibst mir eine Handlungsanweisung, die mein Wohl nicht außer Acht lässt. Jedenfalls schaue ich den Fremden nicht an, sondern schaue demonstrativ weg.“
„Das ist genau richtig!“ lobt mich Peter.
Er nimmt ein eingerolltes Blatt aus seiner Reisetasche, schiebt den Gummi herunter und entrollt das Blatt. Er zeigt auf eine Zeichnung und sagt:
„Kommt der Fremde trotzdem weiter auf dich zu, beugst du dich weiter zurück und machst ein ängstliches Gesicht. Unterschreitet er eine gewisse Grenze fixierst du den Mann weiterhin zurückgebeugt mit ärgerlichem Gesicht. Das sollte Warnung genug sein. Dann hast du zwei Möglichkeiten: Hast du die Möglichkeit, dich zu entfernen, tust du das. Besteht die Möglichkeit nicht, warnst du mit einem leise gerollten R. Das kommt nahe an ein echtes Knurren heran. Schließlich darfst du zuschnappen. Nicht beißen! Nur zuschnappen, und weglaufen.“
Ich schaue mir die Zeichnung an und versuche nachzumachen, was ich sehe. Dann probiere ich leise zu knurren. Darüber schon verlegen lächelnd, muss ich lachen, als mir Peter das Zuschnappen erlaubt. Aber er nickt mir nur lächelnd zu.
„Du musst dich von den menschlichen Gebräuchen befreien, wenn du in der Rolle bist,“ meint er dazu. „Du hast von klein auf gehört, dies tut ‚man‘ nicht, das tut ‚man‘ nicht. Dadurch hast du deine Spontaneität verloren. Die sollst du mit der Zeit in der Rolle wiedergewinnen!“
Als ich ihn mit großen Augen anschaue, nickt er mir freundlich lächelnd zu.
„Ich habe dir anfangs mal gesagt, Tiere sind Gefühlsmenschen,“ ergänzt Peter. „Sie reagieren spontan so, wie sie gerade fühlen. Und ich habe dich aufgefordert, deine Hemmungen über Bord zu werfen und deine Gefühle auszuleben. Beides meint das Gleiche! Mir ist natürlich klar, dass das nicht von jetzt auf gleich klappt. Du wirst eine gewisse Zeit brauchen. Die bekommst du von mir! Denke nur immer daran, deine Emotionen nicht in deinem Herzen zu verschließen, sondern heraus zu lassen. Niemand macht dir dafür Vorwürfe oder lacht dich aus! Versprochen!“
Während er spricht hat er sich neben mich gehockt und streicht mir zart über Kopf, Rücken und Flanke. Dabei lasse ich ein wohliges Brummen hören. Als er geendet hat, lehne ich mich an ihn, und bin im ersten Moment erschrocken als Peter das Gleichgewicht verliert und sich auf den Boden setzt. Aber er lacht nur, zieht die Beine an, richtet sich auf die Knie auf, nimmt meinen Kopf in seine Hände und küsst mich. Seine Zunge verlangt Einlass in meinen Mund, die ich ihr bereitwillig gewähre. Dabei setze ich mich auf eine meiner Hinterbacken und winkele meine Beine an.
Nach einigen Minuten steht Peter auf und sagt:
„Ich muss bald fahren! Du sagst, du joggst gerne durch den Park hinter den Häusern hier?“
Ich habe meine Arme um seine Beine geschlungen und mich bei ihm angelehnt.
„Ja, dabei kann ich wunderbar entspannen,“ antworte ich.
„Sollen wir noch ein halbes Stündchen dort spazieren?“ fragt er und blinzelt mich dabei an.
Ich richte mich auf alle Viere auf und frage erstaunt:
„Jetzt, wo uns alle möglichen Leute begegnen können?“
„Du bist natürlich angezogen und gehst auf zwei Beinen!“ präzisiert Peter.