Samstag, 1. August 2020
Nicci (20)
„Was ich bei vielen Männern im Internet immer feststelle ist, dass sie Frauen als Sexobjekt, als Spielzeug, und damit als Gegenstand ihrer eigenen Lusterfüllung ansehen. Sie sagen, sie kümmern sich, übernehmen Verantwortung – aber sobald die Session beendet ist haben sie das vergessen und verweisen auf die Selbstverantwortung der Frau. Die Frau will also ihre Eigenverantwortung nicht aufgeben und kann sich daher nicht wirklich fallen lassen.“
„Hier hast du zwei Egoisten, die sich treffen um ihre eigene Lust zu befriedigen und dann wieder ihrer Wege gehen, meist ohne einen Blick zurück. Wenn doch, dann geht die Beziehung von beiden nie über eine Freundschaft hinaus. Im ihren Gedanken bleiben beide für sich, wissen alles besser als der Andere, nehmen kaum einen Rat an. Lassen sich nur aus Kalkül helfen…“
„Du möchtest mich durchs Leben führen, über mich entscheiden…“
„Falsch! Wenn ich ÜBER dich entscheiden wollte, würde ich mich nicht mit dir abstimmen, würde nicht vorher mit dir über anstehende Dinge reden. Ich nehme mir zwar das Recht des letzten Wortes, aber was gemacht wird, entspringt entweder einem Kompromiss, oder du hast mich im Gespräch vorher überzeugt, oder ich konnte dich überzeugen. Ich sorge mich um dein Wohl. In deiner Rolle übernehme ich auch deine Pflege…“
Hier muss ich grinsen. Nach unserem Waldspaziergang vorige Woche hat er mich nach allen Regeln der Kunst gebadet.
„Du bist völlig anders, als man sich einen Herrn im BDSM vorstellt!“ stelle ich zum wiederholten Mal fest.
„Vergiss doch einfach den Begriff BDSM,“ schlägt er vor und zwinkert mir zu. „Was wir machen, nennt sich ‚Dogplay‘ – und das gibt es in vielen Schattierungen…“
Inzwischen haben wir gegessen und Peter hat mir geholfen den Tisch abzuräumen. Wir setzen uns auf meine Bettcouch und schauen einen Film. Dabei lege ich bald meinen Kopf in seinen Schoß und er streichelt mich gedankenverloren, während wir der Handlung des Films folgen.
Schließlich bauen wir gemeinsam die Couch zum Bett um und werden zärtlich miteinander.

*

Nach dem Aufwachen am nächsten Morgen, dem Samstag, mag ich gar nicht aufstehen. Ich kuschele mich bei Peter an. Darüber wacht auch er auf. Er legt seinen Arm um mich und gibt mir einen zärtlichen Kuss.
„Guten Morgen, Liebes,“ flüstert er mir ins Ohr. „Ich hoffe nicht, dass ich dich bange gemacht habe – gestern mit der grauen Theorie?“
„Welche Theorie?“ frage ich.
Im Augenblick weiß ich nicht, worauf er hinaus will.
„Na, die vielen Stolperfallen, die eine Beziehung über kurz oder lang zerstören können… Eine Beziehung muss ständig am Leben erhalten werden…“
„Ach das!“
Ich lache und nehme seinen Kopf in meine Hände, um ihn in die rechte Position für einen Zungenkuss zu bringen. Peter erwidert den Kuss, dass ich ein Kribbeln im Bauch spüre und ein Bein über seinen Oberschenkel lege.
„Wir haben beide unsere Vorerfahrungen…“ sinniert er in einer Atempause. „Du bist das wichtigste Lebewesen auf diesem Planeten für mich. Dich werde ich nie mehr loslassen – wenn du genauso denkst!“
„Das tue ich, Liebster!“ verspreche ich ihm.
Nun löst er sich sanft und allmählich von mir und rutscht zur Bettkante, um sich dort aufzusetzen.
„Wenn du dich in deine Rolle fallenlassen magst, mache ich uns gleich das Frühstück,“ sagt er und streichelt dabei über meine Wange.
Ich lächele ihn an und nicke ihm kurz zu. Peter steht auf und geht ins Bad. Kurz darauf ist er wieder zurück und zieht sich an. Dabei schaue ich dem Spiel seiner Muskeln zu. Als er fertig ist zieht er die Rollläden hoch und geht in die Küche. Während er dort das Frühstück bereitet, rutsche ich von der Schlafcouch und gehe auf allen Vieren ins Bad, dessen Tür er offengelassen hat. Ich richte mich auf und schließe die Tür.
Als ich fertig bin, öffne ich die Tür wieder und komme auf allen Vieren ins Wohn-Schlafzimmer zurück. Peter ist inzwischen fertig und sitzt erwartungsvoll am Esstisch. Ein Teller steht für mich neben ihm auf dem Boden. Ich laufe zu ihm und reibe meine Wange an seinem Oberschenkel. Er streicht mir dabei sanft durch mein Haar. Dann beuge ich mich über die mundgerecht kleingeschnittenen Brötchenstücke mit Schinken und andere mit Marmelade. Als ich zu ihm aufschaue greift er die Saugflasche und hält sie mir hin, damit ich trinken kann. Bald haben wir zu Ende gefrühstückt.
Peter erhebt sich, stellt die Reste und das Geschirr zusammen und trägt sie in die Küche. In einer Zimmerecke liegt der längliche Kunststoffball. Er gibt ihm mit dem Fuß einen Stoß in meine Richtung, dann sortiert er die Sachen in den Kühlschrank und die Spülmaschine.
Ich halte den Ball auf und beginne damit auf allen Vieren zu spielen. Nachdem Peter in der Küche fertig ist, kommt er zu mir in den Wohnraum und beginnt das Bett wieder zur Couch umzubauen. Das Bettzeug legt er in den Stauraum und schiebt die Couch wieder zusammen.
Einer Eingebung folgend lasse ich vom Ball ab und klettere auf die Couch, um mich dort auf dem Bauch lang zu machen. Dann linse ich schräg zu Peter hoch. Was wird er jetzt tun?
Peter lacht auf und setzt sich auf die Kante. Er beginnt mir den Rücken so zu massieren, dass ich schon bald wohlige Laute von mir gebe. Gerade beginne ich die Situation so schön zu finden, dass sie nicht mehr aufhören möge, als Peter aufsteht und lächelnd meint:
„Wir sollten darüber die Arbeit nicht vergessen! Komm, wir wollen uns mit Kommandotraining beschäftigen. Das ist genauso wichtig.“
Grummelnd verlasse ich die Couch und setze mich auf meine Fersen, ihn erwartungsvoll anschauend. Peter führt mich durch etwa zwanzig Kommandos. Ein paar davon kenne ich schon aus den vergangenen Sessions. Andere sind mir neu. Er motiviert mich mit Lob und hat eine Tüte mit Süßigkeiten geöffnet, um mir da heraus Belohnungen in den Mund zu stecken.
Im Laufe des Trainings habe ich jegliches Zeitgefühl verloren, so dass ich überrascht bin, als Peter das Training stoppt. Er schickt mich auf die zusammengefaltete Decke in der Zimmerecke an der Balkontür und sagt, dass er sich um das Mittagessen kümmern will. Ich solle ruhig ein wenig vor mich hin dösen in dieser Zeit.



Nicci (19)
„Du sagtest eben, du strafst die Doggie nicht körperlich…“
„Ja…“
Er schaut mich erwartungsvoll an.
„Also strafst du doch!“
Peter lächelt mich an.
„Schau mal,“ beginnt er. „Im Zusammenleben kommt es immer wieder mal vor, dass einer die Erwartungen des Anderen nicht erfüllt. Die erste Reaktion ist dann doch, dass derjenige enttäuscht ist und das auch zeigt. Ich ziehe mich dann meist auf mich zurück, wende mich von dir ab, ignoriere dich einen Moment.
Wie kannst du damit umgehen? Entweder du versuchst, meine Erwartungen zu erfüllen; gibst dir Mühe und ich bin erfreut. Oder du kommst auf mich zu, versuchst durch körperliche Nähe die unsichtbare Mauer aufzubrechen, was dir leichtfallen würde. Oder du ziehst dich nun selbst zurück und wartest, dass ich wieder auf dich zu komme. Dann könnte dir allerdings langweilig werden – möglicherweise. Da hat schon einmal jemand gesagt ‚Ignorieren ist schlimmer als Schlagen‘. Noch eine Möglichkeit hast du: Du beschäftigst dich selbst – so als hätte ich das Kommando FREI ausgesprochen…“
„Hm,“ brumme nun ich und hänge wieder meinen Gedanken nach.
Da beginnen die Gleise zu singen. Ich schaue auf und sehe den Zug in einiger Entfernung auf den Bahnhof zukommen. Peter erhebt sich und auch ich stehe auf. Wir treten an die weiße Linie am Bahnsteig und warten bis der Zug gestoppt hat. Während sich nun die Türen öffnen, gehen wir zum nächstgelegenen Einstieg und nachdem die Leute dort ausgestiegen sind, betrete ich den Waggon. Peter stellt die Reisetasche neben mich und kommt in die Tür. Wir umarmen uns und geben uns einen kurzen Abschiedskuss, denn schon hören wir die Durchsage, dass die Türen freigemacht werden sollen. Peter tritt zurück und geht ein paar Schritte winkend neben der Tür her, bis der Zug Geschwindigkeit aufnimmt.

*

Eine Woche ist vergangen. Ich habe die wichtigsten Entscheidungen getroffen, die bald mein Leben total auf den Kopf stellen werden. Zwischendurch haben wir immer wieder SMS getauscht. Peter hat sich darauf verlegt mir liebe Gedichte zu schicken, wenn ich ihn nicht mit irgendeinem Problem behellige, das er mit mir besprechen kann, um abschließend eine Entscheidung zu treffen.
Jeden Abend bekomme ich eine Nachricht mit einem lieben kleinen Spruch oder einem romantischen Bildchen, mit dem er mir eine gute Nacht wünscht. Mein Ex hat sich nie so sehr um mich bemüht!
Nun hat sich Peter für dieses Wochenende bei mir angesagt. Bis ich zu ihm ziehen kann, möchte er sich an den Wochenenden mit mir treffen, hat er schon bald nach unserem Kennenlernen gesagt. Innerlich bin ich froh darüber gewesen, habe aber gesagt, dass wir uns wechselweise bei ihm und mir treffen sollen. Er ist sofort darauf eingegangen.
Heute am Freitagabend gegen 21 Uhr will er bei mir sein, um dann am Sonntagnachmittag wieder nachhause zu fahren. Er sagt, die Fahrt dauert mit dem Auto etwa zweieinhalb Stunden. Ich bin schon den ganzen Tag aufgeregt gewesen. Eingekauft habe ich in den letzten Tagen schon. Jetzt stehe ich in der Küche und habe einen Kartoffelauflauf im Herd. Gegen Viertel vor Neun ist er fertig und ich lasse ihn bei geschlossenem Deckel langsam auskühlen, weil ich den genauen Zeitpunkt von Peters Ankunft nicht kenne.
Immer wieder schaue ich aus dem Fenster auf den Parkplatz. Endlich fährt sein Wagen vor und wenige Minuten später liegen wir uns in den Armen. Ohne viele Worte erkenne ich, dass es ihm in den vergangenen Tagen genauso ergangen ist wie mir. Seine SMS sind also aus dem Herzen gekommen.
‚Den musst du festhalten!‘ fordere ich mich selbst in Gedanken auf.
Wir setzen uns an den Esstisch und ich lasse mir während des Essens erzählen, wie es ihm in der verflossenen Woche ergangen ist und wie die Fahrt verlaufen ist. Auch ich rede über meine Sehnsucht, die meine Arbeitstage überdeckt hat.
Eine Sorge hat allerdings die Freude über das Wiedersehen während der vergangenen Tage getrübt. Ich spreche sie an. Peter hat mir von Anfang an gesagt, nicht nur meine Freude aus mir heraus zu lassen, sondern auch negative Gefühle zu thematisieren, wenn solche in mir aufsteigen. Also spreche ich mein Misstrauen mutig an:
„Wir befinden uns auf dem Weg, uns ineinander zu verlieben. Ich genieße es, wie du dich um mich und meine Angelegenheiten kümmerst! Aber was ist, wenn die Liebe irgendwann erlahmt? Wirst du dann wie mein Ex deiner Wege gehen und mich links liegen lassen?“
Peter schaut mich ernst an. Er antwortet nach kurzer Pause:
„Ich bin ja ebenfalls beziehungsgeschädigt. Du weißt, ich war verheiratet. Wie man das bei der Hochzeit so macht, verspricht man sich, aufeinander zu achten ‚bis dass der Tod uns scheidet‘…
Für mich ist das kein leerer Spruch. Er war durchaus ernst gemeint und ich würde mich heute noch dranhalten, wenn auch sie sich dran halten würde…
Sie hat nach einigen Jahren das begonnen, was du bei deinem Ex bemängelst. Trotzdem habe ich mich weiter um sie gekümmert, die Verantwortung für uns beide getragen. Auch wenn ich mich öfter bei ihr beklagt habe, dass das Ganze zu einer Einbahnstraße geworden ist, dass von ihr nichts zurückkommt. – Ich bin auf taube Ohren gestoßen! Aber ich hatte schließlich damals ein Versprechen abgegeben…
Dann ist mein Vater gestorben, und auf der Beerdigungsfeier hat sie die anwesenden Gäste mit Klatsch und Anekdoten unterhalten, sich also in den Vordergrund gespielt. Ich saß stumm und trauernd auf meinem Stuhl. Ich fühlte mich zwischen den lachenden Menschen überhaupt nicht wohl. Sie kümmerte sich um ihr Ding statt um mich. Eine Woche später bin ich zuhause ausgezogen.“
„Das wäre ich an deiner Stelle auch! Sowas geht gar nicht!“ stelle ich fest und lege meine Hand auf seine. Ich fühle, wie er zittert.
„Wir dürfen einander nicht aus den Augen verlieren, Liebes,“ redet er weiter. „Du bist für mich das wichtigste Lebewesen auf diesem Planeten! Du hast das Gleiche erlebt wie ich. Wir müssen halt frühzeitig die Anzeichen erkennen und gegensteuern! Ruhig schonungslos Probleme ansprechen! Im Frühstadium ist der jeweils Andere immer noch ansprechbar…“
„Wie willst du gegensteuern?“ frage ich neugierig.
„Nun, es gibt ein paar negative Einflüsse auf eine Beziehung, die man kennen muss: Zum einen, wenn uns der Andere egal zu werden beginnt, man lieber Seins durchziehen will. Dann, wenn uns der Andere nicht mehr genug ist, man immer Mehr und Mehr haben will. Und, wenn das Mitgefühl weniger wird und der Selbstsucht Platz macht. Auch, wenn die Angst vor der Vergänglichkeit größer wird – meist vor dem Ende des Mitgefühls. Wenn die Gefühle füreinander nicht mehr das Handeln bestimmen. Schließlich, nur noch zu glauben was man sieht, wenn also die Rationalität mehr Gewicht bekommt als die Emotionalität. – Und endlich die ständige Besserwisserei, die verblendete Selbstüberzeugung.“
„Hm, das ist eine Menge!“ bricht es aus mir heraus.
Peter lächelt mich an.
„Wenn du dir alles vor Augen führst, findest du Ähnlichkeiten. Die Punkte sind meist verschiedene Anzeichen des gleichen Problems.“
Ich bin einige Zeit still, während ich seine Hand festhalte.