Mittwoch, 26. August 2020
Die Wölfin 11
Er tätschelt mich an der Schulter, nachdem er vom Tisch aufgestanden ist und an mir vorbeigeht.
Im Laufe der Woche bekomme ich mit, dass er über den Internetkontakt mit Rocky auch den Jungen beruhigt, ohne ihn aufzuklären. Herr Wagner sagt nur, dass es in Europa einige Wolfsgebiete gibt. Einzelne Wölfe wechseln zwischen diesen Gebieten, wenn sie ein neues Rudel gründen wollen. Wahrscheinlich hätten Rocky und seine Kumpels solch einen einsamen Wanderer gehört. Wenn ein Rüde ruft und eine Fähe antwortet, könnten sie die Alphatiere eines neuen Rudels bilden. Dazu muss ein einsamer Wanderer jedoch oft rufen…
Am Samstag ist der Junge tatsächlich wieder da. Herr Wagner stellt mich ihm vor und sagt, dass ich mit ihm die nonverbale Kommunikation der Caniden einüben werde. Eine kurze Einführung gebe ich ihm in der Stunde bis zum gemeinsamen Mittagessen.
Der Hofbesitzer kommt zwischendurch immer wieder einmal schauen, was wir machen. Ich habe Rocky gesagt, dass er bei jedem Eintreffen Herrn Wagners Zeichen der Freude zeigen soll. Dazu soll er in Ermangelung eines Schweifs mit den Pobacken wackeln, sich aufgeregt zeigen und lächeln. Dabei darf er nicht vergessen, mit heraushängender Zunge zu hecheln, wie das Hunde in dieser Situation tun. Er darf sich ihm auch gerne nähern, sich mit der Flanke an seinem Bein reiben und sich von ihm streicheln lassen.
Ähnlich verhält es sich, wenn Herr Wagner uns alleinlässt. Jetzt soll er Trauer zeigen, indem er winselt und ein trauriges Gesicht macht. Statt sich aufgeregt zu geben, soll er sich dann ablegen und unbeweglich verharren.
Weitere Gefühle, die er ausleben soll, sind zum Beispiel die Neugier, sage ich ihm. Diese zeigt er, indem er seine Nase näher an den neuen Gegenstand hält und schnüffelt.
Ich gebe ihm Beispiele, indem ich ihm zeige, was ich von ihm sehen will. Wenn es ihm einmal langweilig sein sollte, oder er sich einsam fühlt, soll er sich näher an Herrn Wagner drängen und kuscheln, sobald er da ist. Er darf dabei dessen Streicheleinheiten gerne genießen. Ist Rocky dagegen in so einem Fall tatsächlich allein, kann er sich ein Spielzeug oder eine Decke zum Kuscheln nehmen.
Auf den Gedanken, alles in der Wohnung auszuprobieren, wenn ihm langweilig ist, möchte ich ihn nicht bringen. Das ist unerwünschtes Verhalten eines neurotischen Hundes, das ihm abtrainiert werden müsste.
Weiterhin soll er, so oft es geht, mit heraushängender Zunge tief ein- und ausatmen, wie die Hunde es tun, weil sie sich abkühlen oder ruhiger werden wollen, nach einer vorausgegangenen Anstrengung.
Nach dem Mittagessen übernimmt Herr Wagner das weitere Training. Anfangs schaue ich noch zu. Er bringt einige Spielgeräte in den Schulungsraum und unterbricht das Kommandotraining immer wieder, wenn Rockys Aufmerksamkeit nachlässt und er sich neugierig einem Spielzeug zuwendet.
Diese offen gezeigte Neugier und eine gewisse Disziplinlosigkeit scheinen Herrn Wagner Spaß zu machen. Aber er fordert dann auch wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit, wenn es „weiter im Text“ gehen soll.
Auch Rocky scheint dieser Wechsel Spaß zu machen.
„Ich habe bisher Hemmungen gehabt, meine Gefühle zu zeigen, oder gar, sie auch auszuleben,“ gesteht er Herrn Wagner in einer Pause. „Ich fühle mich so viel freier und selbstsicherer.“

*

‚Einen Nebeneffekt des Trainings mit Vanja stelle ich mit der Zeit fest: Ich werde tatsächlich traurig, wenn Herr Wagner mich verlässt, beziehungsweise freue mich echt, wenn er kommt und sich mit mir beschäftigt. So muss ich Sonntagsmittags, wenn ich nachhause fahre, immer mehr mit einer gewissen Enttäuschung kämpfen, die unterwegs nur allmählich geringer wird.
Nach ein paar Monaten habe ich das Abitur hinter mir. Auf die Frage meiner Eltern, wo ich mich denn bewerben wolle, habe ich ihnen gesagt, dass mich der Hotel- und Gastro-Bereich reizen würde. Ich habe ein Dutzend Bewerbungen geschrieben, sie aber nicht abgeschickt. Stattdessen bin ich mit einer Bewerbung zu Herrn Wagner gefahren und habe ihn gefragt, ob er sich einen Kellner/Küchenjungen/Beikoch/Zimmerjungen vorstellen könnte,‘ denke ich, Rocky.
„Hm,“ hat Herr Wagner gemacht und sich am Kinn gekratzt. „Arbeit gibt es genug auf einem Hof, wie diesem. Du kannst gerne in allen Bereichen arbeiten, die du angesprochen hast. Wobei du immer mehr in Richtung Beikoch/Kellner gehen solltest, je näher die Prüfung in drei Jahren rückt. Damit hast du dann die Möglichkeit, später auch irgendwo anders arbeiten und dich so frei entscheiden zu können, was du dann machst.“
Meine Miene hellt sich immer mehr auf, je länger Herr Wagner spricht. Er lädt einen Ausbildungsvertrag aus dem Internet herunter, passt ihn an und wir unterschreiben ihn gemeinsam.

*

Rocky, unser ‚Küken‘, schaut mal Heinz in der Küche über die Schultern und bedient dann mögliche Gäste, oder er hilft Herrn Wagner im Heuhotel beim Auswechseln der Stroh-Unterlage oder beim Reinigen der sanitären Einrichtungen. Abends fährt er immer nachhause, solange es hell ist. Für die gut zwanzig Wochen im Winter, an denen es schon früh dunkel und spät hell wird steht auch ihm ein Zimmer im Obergeschoß des Haupthauses bereit.
In dieser Zeit verbringt er die Wochenenden von Freitagnachmittag bis Sonntagnachmittag zuhause bei seinen Eltern. In seiner Freizeit darf er in seine Rolle als Rocky, der junge Rüde, fallen. Durch sein Spiel mit uns vergeht die Zeit wie im Flug. Um ihm die Chance der Anonymität zu geben, damit er sich bei zufälligen Begegnungen mit Bewohnern seines Heimatortes im Wäldchen oder auf den Wiesen nicht outet, darf er eine Hundemaske tragen.
So tollen wir an den Wochenenden in der Umgebung des Hofes herum. Zwar halten wir Abstand zu Wanderern, Radlern und Autofahrern, ducken uns bis sie vorbei sind, aber im Wäldchen kann es schonmal zu plötzlichen Begegnungen kommen.