Dienstag, 11. August 2020
Nicci (44)
„Das ist eure Lebensphilosophie hier auf dem Hof?“ frage ich, nach kurzer Zeit der Stille.
Peter nickt.
„Danach leben wir,“ bestätigt er. „Unsere Doggies haben in ihrer Rolle genügend Raum ihre komplette Gefühlspalette sofort auszuleben. Sie schließen ihre Emotionen nicht in ihrem Herzen ein, weil es vielleicht gerade nicht opportun ist, sie herauszulassen!“
„Hm, das ist etwas völlig anderes, als was wir bisher gemacht haben,“ antworte ich.
Er nickt lächelnd.
„Ich weiß,“ sagt er. „Die moderne Spaßgesellschaft hat kein Interesse daran in die Tiefe zu gehen. Wer sich aber mal die Zeit dafür nimmt, kommt zu ganz erstaunlichen gedanklichen Ergebnissen! – Was anderes: Draußen ist ein Parcours aufgebaut. Es ist zwar kühl, aber trocken draußen. Die Abenddämmerung hat früh eingesetzt. In spätestens einer dreiviertel Stunde ist es dunkel.“
Er hebt die Stimme etwas, so dass Bernd und Markus aufmerksam werden, und redet weiter:
„Was haltet ihr davon, mit den Doggies im Team über den Parcours zu laufen bis es zu dunkel dafür ist?“
Bernd nickt. Markus schaut verständnislos, und ich bin gespannt, wie Peter das nun meint.
Er ruft Nicci zu sich und sagt:
„Ich mache es euch vor.“
Dann verlassen beide den Wintergarten. Wir hören ihn Kommandos rufen, während er neben Nicci her läuft. So schickt er sie diesmal links und rechts an den Hütchen vorbei, indem er ihr nach jedem zweiten Hütchen eine andere Richtung zuruft. Das Gleiche macht er an den Böcken: Er ruft im Wechsel HOPP oder LINKS, beziehungsweise RECHTS. Je nachdem, ob Nicci springen soll oder an der Seite mit den kurzen Beinen der Böcke vorbeilaufen soll. Als Nicci dann in den Tunnel kriecht, läuft er zum Ausgang und scheint sie aufzumuntern, schnell hindurch zu kriechen.
Als Beide zurück sind, stelle ich fest:
„Das war aber jetzt etwas anders, als heute Nachmittag…“
Peter grinst.
„Grundsätzlich muss es Regeln geben,“ erklärt er, „nach denen sich alle richten, damit die Durchläufe vergleichbar sind. Nur so kann ein Siegerteam ermittelt werden. Aber man kann die Regeln ändern ohne die Doggies vorher davon in Kenntnis zu setzen! Sie sollen sich schließlich nicht nach der Gewohnheit richten, sondern sich vom Owner führen lassen. Sonst könnte man die Meute loslassen und hier warten, wer zuerst zurück ist…“
„Okay,“ sage ich und nicke.
Bernd drängt nun mit Jasi an uns vorbei. Lena beobachtet die Beiden von der Tür des Wintergartens aus, und mir fällt auf, dass Bernd noch einen anderen ‚Kurs fährt‘ über den Parcour. Nachdem die Beiden zurück sind, sage ich das zu Bernd:
„Euren Durchlauf kann man jetzt aber nicht mit dem von Peter vergleichen…“
Bernd antwortet lächelnd:
„Es hat ja auch niemand die Zeit gestoppt. So gesehen ist ein Vergleich auch nicht möglich. Wenn du jetzt mit Lena über den Parcours laufen willst, gib die Kommandos intuitiv wie sie dir gerade in den Sinn kommen. Es ist heute ja kein Wettkampf, sondern Spaß.“
Wir machen noch ein paar Durchläufe, bis es richtig dunkel ist. Ich denke, dass wir diese Nacht schlafen wie die Murmeltiere. Das war ein außergewöhnlicher Tag heute. Morgen müssen wir schon nachhause fahren.



Nicci (43)
„Die Gage richtet sich wohl auch nach dem Bekanntheitsgrad und hier würde eine Agentur etwas nützen, auch wenn die einen Prozentsatz als Provision einkassiert.“
Nach den Vorschlägen bleibe ich eine Weile stumm. In mir arbeitet es. Soll ich wirklich durchstarten? Nach einer Weile frage ich Peter:
„Da war noch etwas anderes. Du hast vorhin von der idealen Doggie und dem idealen Owner gesprochen – und das mit Menschen und Haustieren verglichen.“
„Kurz angerissen,“ meint Peter und zeigt ein jungenhaftes Grinsen. „Man sagt, es gibt zwei Arten von Zuneigung, die dich gleichen, wie ein Zwilling dem Anderen: Die Zuneigung zwischen Eltern und Kind, und die Zuneigung zwischen Mensch und seinem Haustier. Darum betrachten so viele Menschen ihr Tier wie einen Familienangehörigen. Warum das nicht auch auf die Beziehung zwischen Human Doggie und Owner übertragen, statt immer nur auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet zu sein?“
„Hm, da ist schon etwas dran,“ gebe ich überlegend zurück. „Aber die Leute gehen nicht so schnell gefühlsmäßig enge Beziehungen ein. Warum das so ist, kann ich nicht sagen. Viele treffen sich für Sex, nachdem sie wochen- oder monatelang miteinander getextet haben, und gehen dann wieder auseinander…“
„Sie scheuen sich Gefühle zu zeigen, weil sie glauben, dadurch angreifbar zu werden?“
„Ja, so könnte man das in etwa ausdrücken…“
„Wenn man wochen- oder monatelang miteinander getextet hat, sollte man den Gesprächspartner kennen. Vorausgesetzt natürlich, dass man sich ehrlich über Alltagsprobleme ausgetauscht und soweit Vertrauen zueinander gewonnen hat, dass man auch über private Sorgen reden konnte. Dann sollte es kein Problem sein, Gefühle zu zeigen!“
„Eben das ist das Problem! Wer ist schon ehrlich? Jeder versucht doch, sich im positivsten Licht darzustellen. Also bleibt ein gehöriges Maß Misstrauen bestehen.“
„Dann sollte man sich, bevor es tiefer geht, live treffen und auf neutralem Gelände miteinander reden, bzw. Events besuchen, und dabei sein Gegenüber beobachten. Ist Gestik und Mimik mit den Worten konform, oder gibt es da eine Diskrepanz? Nach solchen Treffen muss man dann schon ein Resümee ziehen.“
„Das ist wohl vielen zu kompliziert. Kaum einer versteht sich in Psychologie. Und die Meisten treffen sich doch nur für Sex und wollen sonst ihr Leben selbst in der Hand halten,“ antworte ich.
„Aus Furcht davor, der Andere könnte Einen ausnutzen und nachher fallen lassen, wenn nichts mehr zu holen ist!“ präzisiert Peter. „Ja, das ist die Gefühlskälte der heutigen Zeit. Aber muss man denn ‚mit dem Strom schwimmen‘? Klar, das braucht weniger Energie, als gegen den Strom zu schwimmen und seinen Lebensstil zu leben! Aber durch das ‚Mit dem Strom schwimmen‘ stumpft man mit der Zeit ab!“
Ich schaue ihn stumm an und zucke mit den Schultern. Darauf weiß ich im Moment auch keine Antwort. Ich schaue mich zu den Doggies um. Die drei liegen einträchtig nebeneinander. Unsere Unterhaltung scheint sie nicht zu interessieren. Markus unterhält sich leise mit Bernd.
„Ich habe einige Jahre auf Schiffen gearbeitet,“ beginnt Peter wieder. „Für den Seemann sind Schiffe wie Lebewesen. Das mag man als Aberglauben abtun, man kann es anderen Menschen auch nicht wirklich erklären und sollte es vielleicht auch nicht. Jedenfalls habe ich in stillen Momenten abends an Deck oft dieses Gefühl, wo ich eins bin mit Wind und Wellen, zum Mond emporschauend.
Frag mal ein Mitglied indigener Völker auf der ganzen Erde, seien es nun die Sami in Nordeuropa, oder die Aborigines, oder brasilianische Urwaldindianer – völlig egal -, die noch an die beseelte Natur glauben. Sie haben zu vielen Dingen eine viel intensivere und persönlichere Beziehung als der gebildete Mensch in der westlichen Kultur. Es mag sein, dass wir längst Dinge vergessen haben, die den Naturvölkern noch bewusst sind.
Vielleicht teilt sich die Welt nur denen mit, die zum Zuhören bereit sind. Wie die Wahrheit in dieser Frage auch aussehen mag, ob der Mensch grundsätzlich ein chemischer Mechanismus ist oder mehr als das, ein bewusstes Lebewesen, dessen Schmerz und Erkenntnis und Bewusstheit das aufeinander Einwirken von Kohlenstoff und Sauerstoff, den Austausch von Gasen, das Öffnen und Schließen von Ventilen übersteigen muss – es steht fest, dass manche Menschen – und dazu gehören gerade die Naturvölker und Animisten – ihre Welt auf eine tiefgründige, vielschichtige Weise erleben, die von der Welterkenntnis der technisch orientierten Mentalität sehr entfernt ist.
Der Mensch in der westlichen Kultur stellt sich die Welt als im Wesentlichen tot vor. Der Animist sieht sie als durch und durch lebendig. Der eine gebraucht das Schlagwort von der blinden Maschine, der andere das des Lebewesens. Zweifellos übertrifft die Realität alle Metaphern, die nur dünne Strohhalme sind, mit denen wir Mitleid erregende, staunende Wesen an den Oberflächen steinerner Rätsel zu kratzen versuchen. Aber wenn wir schon unseren Weg wählen müssen, auf dem wir letztlich doch versagen, haben die Naturvölker in meinen Augen keine schlechte Entscheidung getroffen.
Ihr Weg ist dem des Menschen aus der westlichen Kultur zumindest nicht unterlegen. Dem Naturmenschen liegt seine Welt am Herzen. Sie ist sein Freund. Er würde sie nicht töten oder ausbeuten.
Der Mensch wird als Teil der Natur verstanden. Die Menschen werden unterteilt in ihre Geschlechter. Wie der Mensch als stärkste Spezies die Verantwortung für das Bestehen der Natur hat und die Verpflichtung sie zu schützen, so haben im Kleinen die Owner die Verantwortung für das Wohl der Doggies und die Verpflichtung sie zu schützen. Dafür zeigt die Doggie Zuneigung und Vertrauen, und lässt sich gerne führen.“