Sonntag, 23. August 2020
Die Wölfin 08
Beim Thema Essen spüre ich eine große Leere im Magen, also schlüpfe ich hinter den Gästen durch die Tür und Vanja folgt mir.

*

Im Gastraum haben es sich später zur Abendessenszeit sieben junge Leute bequem gemacht. Sie wollen auf dem Stroh übernachten und morgenfrüh nach dem Frühstück mit ihren Mountainbikes weiterfahren. Sechs der Jungs sind 18 bis 21 Jahre alt und ihr Gruppenleiter dürfte etwa 25 Jahre alt sein.
Die Eheleute Schmidt setzen sich in Zivil dazu. Auch sie verlassen uns Morgenfrüh nach dem Frühstück. Heinz bringt mir und Ennie die vollen Schalen nach oben ins Obergeschoß, damit wir vor den Blicken der Jungs geschützt sind.
Einer der Jungs steht im Verlauf des Abendessens auf und kommt an die Küchentür. Dort fragt er nach der Gästetoilette. Heinz zieht die Stirn kraus. Die Gästetoiletten liegen rechts und links des Haupteingangs und sind als solche deutlich gekennzeichnet. Er lächelt aber milde und weist den Jungen darauf hin.
Nun flüstert der Junge mit Verschwörermiene:
„Stimmt das, dass der Wagner-Hof eine Hundeschule beherbergt? Ich habe da etwas im Internet entdeckt, als ich mich auf einer speziellen Seite angemeldet habe…“
„Du bist Petplayer?“ fragt Heinz.
„Noch nicht lange. Ich bin noch ganz frisch und dachte, in einer Hundeschule könnte ich viel darüber lernen…“
„Wo wohnst du denn?“
Der Junge nennt einen Ort, keine zwanzig Kilometer entfernt.
„Wissen die Anderen da vorne davon?“
Schnell schüttelt der Junge den Kopf.
„Dann geh jetzt erstmal zur Toilette. Und wenn du einmal Zeit hast, alleine hier hoch zu kommen, sprichst du Herrn Wagner einfach mal darauf an!“
Der Junge nickt und geht zur anderen Seite des Gastraumes auf die Toilette, um sich wenig später wieder zu den Anderen zu gesellen.
Am Morgen des folgenden Tages spricht Heinz meinen Herrn auf das kurze Gespräch beim Abendessen an. Dann haben uns die Gäste am Vormittag verlassen.
Im Laufe der Woche des Abends kommt es dann zum Kontakt zwischen meinem Herrn und dem Jungen, der sich in der Petplay-Community ‚Rocky‘ nennt. Sie vereinbaren, dass er in seiner Freizeit an drei Wochenenden im Monat zu uns heraufkommen kann. Ein Wochenende pro Monat ist er mit seiner Pfadfinder-Gruppe unterwegs, die er auch an jedem Mittwochabend trifft.
Am darauffolgenden Samstagmittag kommt er mit seinem Rad zum ersten Mal bei uns an. Leider ist Vanja am Vormittag wieder abgefahren, um nachhause zu kommen. Aber ich texte mit ihr und kann ihr damit berichten, wie der junge Mann sich so macht als Doggie.

*

Ich, Markus, habe mit Herrn Wagner vereinbart, dass ich an drei Wochenenden im Monat seine Hundeschule besuchen darf. Da ich im Abiturjahrgang bin und nicht viel Geld zur Verfügung habe – gleichzeitig Geld für den Führerschein zurücklege -, darf ich unentgeltlich teilnehmen.
An meinem ersten Wochenende auf dem Wagner-Hof fahre ich nach dem Frühstück mit meinem Mountainbike los und bin eine Stunde darauf dort angekommen. Ich stelle mein Rad neben dem Eingang ab und gehe in den Speiseraum. In diesem Moment kommt mir eine Doggie auf allen Vieren aus dem Küchengang entgegen.
Wie angewurzelt bleibe ich stehen und warte, was geschieht. Die Doggie, bestimmt doppelt so alt wie ich, bleibt in etwa zwei Meter Entfernung stehen und setzt sich anschließend auf ihre Fersen. Dann sagt sie:
„Hallo Markus. Du bist doch der Markus?“
Ich nicke eifrig und bestätige ihr:
„Ja, der bin ich.“
„Wie lange magst du bleiben? Fährst du heute wieder zurück?“
„Wenn es möglich wäre, würde ich morgen wieder zurückfahren,“ antworte ich ihr. „Meine Eltern denken, ich sei bei einem Freund.“
„Ah, okay,“ sagt die Doggie. „Dann folge mir!“
Sie dreht sich um und geht langsam vor. Dabei berühren nur ihre Hände und Füße den Boden. Die Knie hält sie vom Boden ab. Das ist eine ganz andere Gangart, als auf Händen und Knien zu laufen. Man kommt schneller voran und es sieht irgendwie eleganter, tierähnlicher aus.
Im Küchengang angekommen, wendet sie sich nach links zur Treppe und nimmt die Stufen nach unten. Ich folge ihr. Im Treppenhaus und später im Untergeschoß geht wie von Geisterhand das Licht an. Die Doggie wendet sich zu einer Tür neben der Treppe und macht Männchen. Nun sagt sie:
„Mach doch bitte einmal die Tür auf.“
Ich öffne also die Tür und stehe in einem Bereich, der etwa zwei Meter fünfzig hoch umzäunt ist. Unter einem Vordach aus Beton stehen hier vier Hundezwinger nebeneinander an der Hauswand, keiner ist besetzt.
„Übernachten darfst du in einem Hundezwinger. Hast du einen Schlafsack dabei?“
Ich zucke mit den Schultern und schüttele den Kopf, aber der Zwinger reizt mich irgendwie. Die Doggie sagt nun:
„Okay, dann bekommst du heute Abend einen von uns. Komm wieder mit hinein.“
Ich öffne also die Tür ins Untergeschoß und wir steigen die Treppe wieder hinauf. Dort setze ich mich an den ersten Tisch, während die Doggie ins Obergeschoß läuft. Kurz darauf kommt sie in Begleitung von Herrn Wagner zurück.
Der Hofbesitzer begrüßt mich beim Näherkommen und setzt sich zu mir an den Tisch. Danach fordert er mich auf, „frei von der Leber weg“ zu erzählen, seit wann ich den Hund in mir spüre und wie ich bisher damit umgegangen bin. Das wird ein längeres Gespräch, immer wieder von Herrn Wagner mit Verständnisfragen unterbrochen.



Die Wölfin 07
„Ja, richtig,“ meint mein Herr. „Dann folgen Sie mir bitte weiter.“
Er öffnet die Tür des Durchgangs zum Speiseraum, zeigt ihnen dort alles und führt sie anschließend die Treppe hinunter ins Untergeschoß. Dort öffnet er ihnen kurz den Schulungsraum, um sie dann hinten hinaus zu führen und ihnen die Zwinger unter der Terrasse zu zeigen.
„Wie Sie sehen, können Doggies hier draußen gehalten werden und sind trotzdem vor fremden Blicken geschützt!“
Er weist auf den blickdichten Zaun hin und öffnet schließlich einen der sechs Quadratmeter großen Zwinger.
„Sie wollen, dass ihr Wuffel das Dog-Dancing lernt?“ fragt er noch einmal nach. „Das dauert aber mehrere Wochen! Diese Woche bringe ich ihm die nonverbalen Kommandos bei. Er wird dann auf einzelne Gesten reagieren, als ob Sie Kommandos aussprechen würden. Dafür ist Ihre Anwesenheit natürlich notwendig, denn auch Sie müssen die Gesten kennen und anwenden können.
In einem zweiten Schritt bringe ich Ihnen Beiden dann verschiedene Choreografien bei, die Sie sich gerne aus vorhandenen Videos auswählen dürfen.“
„Okay,“ meint die Frau nun. „Wie sieht dann Ihre Planung für die Woche aus?“
„Wenn Sie möchten, beginnen wir gleich mit dem Training. Nach dem Frühstück morgen schaue ich mir an, was Sie beide behalten haben und korrigiere eventuell. So machen wir das dann täglich: Training nach dem Mittagessen, Vertiefen am Vormittag. Ab dem Nachmittag haben Sie dann frei und können zu Spaziergängen in der Umgebung aufbrechen.“
„Das hört sich gut an,“ meint Sie und er nickt dazu.
„Okay, dann legen Sie schonmal ihren Schlafsack in den Zwinger und folgen Sie mir. Sie haben sicher großen Hunger,“ meint mein Herr zwinkernd und hält ihnen die Tür zum Untergeschoß auf.
Er führt sie nun in den Gastraum, wo unser Koch sie nach ihren Wünschen fragt. Mein Herr setzt sich dazu und plant mit ihnen die Menüs und das Napfessen für die ganze Woche ihres Aufenthalts. Dann essen sie gemeinsam mit meinem Herrn, der sich beim Essen mit ihnen über ihr Petplay unterhält, um soweit Einblick zu erhalten, wie er es für das Training braucht. Die ganze Zeit ist Herr Schmidt noch Zweibeiner. Das ändert sich erst, nachdem er mit seinem Frauchen nach dem Essen in ihrer Box im Heuhotel verschwunden ist.
Danach beginnt für Herr Schmidt, der jetzt ‚Wuffel‘ heißt, der Ernst als Vierbeiner. Über die Woche treffe ich die Beiden des Öfteren im Haus. Mein Herr hat gesagt, dass ich für die Dauer ihres Aufenthaltes ‚Wuffels‘ Gangart nachahmen soll. Er geht auf Händen und Knien und nutzt dafür Bauarbeiter-Knieschoner. Mein Herr hat mir ähnliche angezogen, damit ich ‚Wuffel‘ und sein Frauchen nicht mit dem BearCrawl verunsichere.
An ihrem letzten Tag soll ich sie durch die Umgebung des Hofes führen, weil unser Koch mit dem Mittagessen warten muss. Vanja will uns heute besuchen und vielleicht eine ganze Woche bleiben. Ich freue mich sehr auf meine ‚Seelenschwester‘. Meine Gedanken wandern während des Spaziergangs mit unseren Kunden immer wieder zu ihr.
Wir krabbeln gerade auf Händen und Knien über den Waldweg in dem kleinen Wäldchen unterhalb des Hofes, als ich wie angewurzelt stehenbleibe. ‚Wuffel‘ wechselt den Blick erstaunt zwischen mir und seinem Frauchen. Da hören wir das langgezogene Heulen wieder.
„Wouuuuuuh! Woouuuuuuhhh!“
Frau Schmidt fragt mich nach einer Schrecksekunde:
„Ennie, habt ihr hier Wölfe?“
Ich schüttele den Kopf und antworte ihr:
„Nein! Das wäre dann der Erste, der hier vorbei wandert. Aber ein Einzelgänger würde sich nicht am helllichten Tag so bemerkbar machen. Sie sind scheu. Das hier ist Vanja, die Wölfin…“
Ich steige auf Hände und Füße in den BearCrawl und will loslaufen, als Frau Schmidt hinterherruft:
„Ist er denn nicht gefährlich?“
„Sie ist zahm!“ rufe ich laut zurück.
Ich habe mich kurz zum Antworten umgedreht, dann laufe ich los. Herr und Frau Schmidt brauchen mir nur aus dem Wäldchen heraus zu folgen, dann sehen sie den Hof schräg über sich und erkennen den restlichen Weg.
Unterwegs höre ich noch einmal ihr Wolfsgeheul, dann breche ich zwischen zwei Büschen aus dem Wäldchen hervor. Auf halber Strecke zwischen Hof und Wäldchen sehe ich eine schwarze Gestalt auf allen Vieren, die langsam näherkommt.
Ich hetze den flachen Hang hinauf und auf sie zu. Sie hat mich schnell erkannt, lässt ein helles Japsen verlauten und kommt mir entgegengelaufen. Wir treffen mit den Schultern im spitzen Winkel aufeinander, so dass wir uns beide umwerfen. Nun rollen wir lachend ein paar Meter den Hang hinunter.
Nachdem wir uns aufgerappelt haben, will ich sie herzlich begrüßen, aber Vanja hetzt zur Seite weg. Ich lächele nun und hetze ihr hinterher. Unsere Gäste, die ich führen sollte, habe ich darüber ganz vergessen. Vanja läuft in einem Bogen auf den Hof zu. Das bietet mir die Gelegenheit den Weg abzukürzen.
In der Nähe der Seitentür habe ich Vanja wieder erreicht und umgeworfen. Sie legt sich auf den Rücken, beugt Ellbogen und Knie und macht einen langen Hals, während ich über ihr stehe und mich theatralisch zu ihr hinunter beuge. Dabei flüstert sie mir außer Atem zu:
„Ich sollte euch zum Essen rufen…“
Das lässt mich nach dem Ehepaar Schmidt schauen. Frau Schmidt und ihr ‚Wuffel‘ sind noch etwa zwanzig Meter entfernt. Sie haben den geraden Weg quer über die Wiese genommen. Wir setzen uns auf und warten bis die Beiden heran sind.
In diesem Moment geht die Seitentür auf und mein Herr tritt heraus, das Türblatt festhaltend.
„Hallo Herr und Frau Schmidt,“ sagt er lächelnd. „Da haben sie einmal ausgelassene Spielfreude erlebt…“
Die Beiden sind sprachlos, machen große Augen und gehen an uns vorbei ins Haus. Dabei erklärt ihnen mein Herr:
„Das Essen ist fertig. Sie können gerne im Gastraum Platz nehmen.“
Zu uns gewendet ergänzt er:
„Wollt ihr draußen weiterspielen oder ebenfalls reinkommen?“