Samstag, 22. August 2020
Die Wölfin 06
Kurz vor meinem nächsten Aufenthalt auf dem Wagner-Hof schreibe ich aus diesem Grund Herr Wagner an. Er zeigt sich aufgeschlossen und erklärt:
„Natürlich, Lea. Ich würde mich über eine neue Mitarbeiterin von deinem Kaliber freuen! Du hast das Zeug dazu, die nonverbale Kommunikation zu lehren und könntest mich damit entlasten. Über das Gehalt reden wir von Angesicht zu Angesicht am besten.“
Ich lächele. Mir ist, als hätte sich eine Klammer um meine Seele gelöst und lässt mich nun freier atmen.
Ennie hat mir den Ablauf ihrer Kündigungen beschrieben. Ich gehe nun genauso vor.

*

Herr Wagner bietet mir ein Gästezimmer im Haupthaus an, als ich im nächsten Urlaub für eine Woche auf den Wagner-Hof komme. Auch Heinz bewohnt ein solches Zimmer im Obergeschoß.
„Hallo, Lea,“ begrüßt mich Herr Wagner.
Er ist mir aus dem Haus entgegengekommen, als ich meinen Wagen auf dem Hof davor abstelle. Außer mir, parken hier noch zwei weitere PKW. Einer ist der Kleintransporter von Heinz. Den zweiten Wagen kenne ich nicht. Herr Wagner nimmt mir die Reisetasche ab und sagt, ich solle ihm folgen.
Danach dreht er sich aber noch einmal um und weist auf den mir unbekannten PKW. Er erklärt:
„Wir haben seit einer Woche einen Doggie und sein Frauchen hier. Leider reisen sie morgen schon ab.“
Wir betreten das Haus und Herr Wagner durchschreitet den Gastraum in Richtung Treppe. Ich folge ihm ins Obergeschoß und er zeigt mir mein Zimmer für die kommenden Tage. Er lässt mich dann allein und meint nur noch:
„Wir haben heute mit dem Mittagessen etwas gewartet bis du angekommen bist. Der Doggie und sein Frauchen verkürzen sich die Wartezeit mit einem Spaziergang in der Umgebung. Mach dich also ruhig schon einmal fertig und komm dann als Vierbeiner zum Essen.“
Ich nicke. Zuhause bin ich heute früh weggefahren, so dass ich es geschafft habe, gegen 13Uhr hier anzukommen. Erst einmal ziehe ich mir mein neues Doggie-Outfit an. Ich habe mir einen schwarzen Overall in Lycra-Wetlook gekauft. Dazu schwarze Sneakers und gepolsterte Lederhandschuhe aus dem Motorrad-Bedarf. Mein Halsband vervollständigt meinen Auftritt. Dann fällt mir die Schale auf, die Heinz mir geschenkt hat. Sie ist zu schwer, um sie unbeschadet zwischen den Kiefern die Treppe hinunter zu transportieren. Also gehe ich als Mensch hinunter in den Durchgang zur Küche und Terrasse, stelle die Schale neben Ennie’s und gehe nun erst auf alle Viere.
Der Koch hat mich gehört und schaut neugierig aus der Küche. Als er mich sieht lächelt er froh und beugt sich zur Begrüßung zu mir herunter.
Nach der herzlichen Begrüßung nimmt er die Schale auf und verschwindet kurze Zeit damit in der Küche, um sie mir wenig später an ihren Platz zurück zu stellen, gefüllt mit einem leckeren Mittagessen.
Kurz darauf kommt auch Herr Wagner aus der Küche und meint auf dem Weg in sein Arbeitszimmer im Obergeschoß:
„Vanja, wenn du satt bist, geh‘ doch bitte Ennie draußen suchen. Sie begleitet unsere Gäste, damit sie sich nicht verirren.“
Ich antworte mit einem „Bow“ und beeile mich mit dem Essen. Die Vorfreude auf Ennie beflügelt mich. Schnell habe ich aufgegessen und meinen Durst gestillt. Anschließend gehe ich auf allen Vieren zu der Seitentür, mache dort Männchen und drücke die Klinke herunter. Die Tür springt aus dem Schloss und nun muss ich das Türblatt nach innen ziehen…
Ich laufe zur Küche drücke mich zur Hälfte durch die Schwingtüre und melde mich mit einem „Bow“, weil Heinz mit dem Rücken zu mir arbeitet. Er dreht sich zu mir um und ich gehe rückwärts, ihn bittend anschauend. Er legt aus der Hand, was er da gerade macht und folgt mir. Ich laufe immer zwei bis drei Schritte und schaue mich dann um, ob er mir folgt. So führe ich ihn zur Seitentür. Dort hält er mir das Türblatt auf und lässt mich hindurchschlüpfen. Dabei sagt er lächelnd:
„Komm demnächst ruhig sofort zu mir, damit ich dich hinauslassen kann, Vanja.“
Ich streiche im Vorbeigehen mit der Flanke an seinen Oberschenkeln entlang. Mit dieser besonderen Nähe zu ihm, bedanke ich mich und lächele ihn zurückblickend glücklich an.
Dann bin ich draußen und schaue mich erst einmal unsicher um. Wohin soll ich mich wenden, um Ennie und ihre Begleitung zu finden? Spontan hebe ich den Kopf, nachdem ich ein paarmal tief Luft geholt habe und rufe laut:
„Bow, Bowouuu! Wouuuuuuuh,“ so wie ich vor längerer Zeit in einer Dokumentation eine Polarwölfin hungrig nach ihrem Partner rufen gehört habe, der auf der Jagd gewesen ist.
Ich hoffe, dass Ennie mich hört und richtig reagiert. Langsam entferne ich mich vom Hof in Richtung des Wäldchens und wiederhole meinen Ruf nach vielleicht hundert Metern wieder.

*

Ein Wagen fährt auf den Platz vor dem Haupthaus. Zwei Personen mittleren Alters, Mann und Frau, steigen aus und kommen auf das Haupthaus zu. Die Frau betätigt die Türglocke, während der Mann einen Koffer trägt.
Mein Herr steht von seinem Schreibtisch auf und geht schnell die Treppe hinunter und durch den Gastraum an die Eingangstür. Er lächelt die Eingetroffenen an und fragt:
„Sie sind Herr und Frau Schmidt?“
Die Frau lächelt zurück und nickt.
„Genau, wir haben eine Woche Hundeschule gebucht.“
„Gut,“ sagt mein Herr, „dann folgen Sie mir bitte.“
Er führt das Paar zum Heuhotel im Nebengebäude, dem früheren Stall. Drinnen zeigt er ihnen eine freie Box direkt neben dem Durchgang ins Haupthaus, sowie Dusche und Toilette der Box gegenüber.
„Sie haben – wie besprochen – Schlafsäcke dabei?“
Wieder erhebt die Frau das Wort:
„Ja, wir haben Schlafsäcke dabei. Aber wir wollen getrennt schlafen. Sie erzählten im Vorgespräch, dass die Hundezwinger haben…“