Montag, 24. August 2020
Die Wölfin 09
Schließlich kommt der Koch an den Tisch und fragt, ob er das Essen auf dem Tisch servieren soll. Herr Wagner bestätigt das lächelnd. Kurz darauf esse ich zusammen mit den beiden Männern zu Mittag. Die Doggie isst aus einer Schale vom Boden in unserer Nähe. Ich muss immer wieder zwischendurch zu ihr hinschauen. Diese Szene fasziniert und erregt mich irgendwie.
Auch Herrn Wagner ist es aufgefallen, denn er sagt:
„Möchtest du auch aus einem Napf essen?“
Ich werde rot und schaue angestrengt auf meinen Teller.
Er lässt nicht locker:
„Na, Rocky. Möchtest du?“
Ich schaue auf und nicke.
„Okay,“ sagt er. „Heinz?“
Der Koch lächelt, erhebt sich und nimmt meinen Teller mit in die Küche, um kurz darauf mit einer Schale wiederzukommen, in der sich der Rest meines Mittagessens befindet. Er setzt die Schale neben die Schale der Doggie und sagt:
„Na, dann komm, Rocky! Probiere einmal, wie es ist, nur mit dem Mund zu essen.“
Ich schaue Herrn Wagner an. Er nickt mir aufmunternd zu. Also rutsche ich zur Seite, lasse mich auf alle Viere nieder und krabbele auf Händen und Knien zur Schale. Dort senke ich meinen Kopf hinein und sehe, dass der Koch meine Essensreste vom Teller weiter zerkleinert hat. Ich kann sie einfach mit den Lippen greifen und in den Mund befördern um sie mit den Zähnen zu zerkleinern.
Nach dem Essen fordert mich Herr Wagner auf, ihm ins Untergeschoß zu folgen. Wir gehen in einen Trainingsraum. Dort holt er mehrere Hantelgewichte aus einem Geräteraum und füllt damit einen Sack, den er zubindet und mir mit einem Seil am Gürtel meiner Hose über dem Steiß befestigt.
„So,“ sagt er. „Jetzt komm erst einmal mit dem Hintern hoch. Heb die Knie vom Boden ab und laufe so, wie du es bei Ennie siehst.“
Ich schaue stirnrunzelnd zu ihm auf und dann Ennie an, die in meiner Nähe SITZ gemacht hat und dem Training anscheinend zuschauen möchte. In diesem Moment erhebt sie sich wieder auf Hände und Füße, wirft den Kopf in den Nacken und sagt „Bow!“
Also mache ich sie nach. Herr Wagner ist ein Stück zur Seite gegangen und sagt nun:
„Na komm, Rocky! Komm zu mir!“
Ich will loslaufen und werde von den Gewichten am Gürtel gebremst. Deshalb stemme ich mich dagegen und ziehe sie auf Händen und Füßen, mit angehobenen Knien, hinter mir her. Die Doggie, die wohl Ennie heißt, läuft neben mir her. Letzteres motiviert mich doch sehr.
Als es zum Abendessen geht, bin ich rechtschaffen müde und schlafe wenig später tief und fest in meinem Zwinger. Nach dem Abendessen hat mir Herr Wagner nur noch ein Geschirr angepasst, womit ich die Gewichte besser ziehen kann, ohne dass der Gürtel zu stark belastet wird. Auch gibt er mir einen Schlafsack, damit die Kühle der Nacht mir nichts anhaben kann.
Am nächsten Vormittag muss ich wieder den ‚BearCrawl‘ üben, wie er die vierbeinige Gangart mit angehobenen Knien nennt. Hinzu kommen noch drei oder vier Grundkommandos und nach dem Mittagessen fahre ich wieder nachhause zurück. Das Wochenende ist großartig gewesen! Ich werde ganz sicher dabeibleiben. Für Training, Essen und Unterkunft brauche ich nichts zu zahlen, hat er mir beim Abschied noch einmal versichert.

*

Wieder bin ich mit meiner Clique und unseren Mountainbikes unterwegs gewesen. Wir haben in dem Wäldchen unterhalb des Wagner-Hofes gezeltet und unsere Verpflegung mitgebracht, weil wir für das Geld, das wir im Heuhotel mit Frühstück hätten zahlen müssen, einmal ‚über die Stränge schlagen wollten‘. Ein Kumpel hat an diesem Wochenende Geburtstag und wir haben Bier dabeigehabt.
Es ist eine wunderschöne helle Vollmondnacht gewesen. Wir haben schon einiges von dem mitgebrachten Bier ‚getankt‘ und sind dementsprechend ausgelassen gewesen – und sicher auch laut. Plötzlich schauen wir uns erschreckt an und fragen uns gegenseitig:
„Hast du das gehört?“
Im gleichen Moment ertönt das „Bow Woouuuu Wouuuuuu“ erneut. Wir springen auf und raffen schnell alles zusammen. Schnell sitzen wir auf unseren Rädern und fahren so schnell es geht nachhause. Wieder ertönt das Wolfsgeheul in unserem Rücken.
Am nächsten Tag bekommen meine Eltern Besuch von der Polizei. Ich muss den Beamten schildern, was wir in der vergangenen Nacht gemacht haben und was ich gehört habe. Danach verabschieden sie sich freundlich, nicht ohne eine Ermahnung auszusprechen, dass wir nicht einfach so in der freien Natur Feste feiern sollen.

*

Mein Name ist Lea. Ich nehme an, dass ich in mir die Seele eines Kindes trage, das im Jugoslawien-Krieg vor dreißig Jahren seine Eltern brutal verloren, dann die Nähe von Wölfen gesucht und schließlich einige Jahre unter ihnen in den Wäldern gelebt hat.
Jedenfalls würde das einerseits meine Träume und andererseits meine Kenntnisse in der nonverbalen Kommunikation erklären, die mich schon mehrfach befähigt haben zu erkennen, wie es Hunden in meiner Umgebung geht, was sie momentan brauchen.
Ich habe mich einer Petplay-Community im Internet angeschlossen und bin darüber mit Herrn Wagner in Kontakt gekommen, der hier im Mittelgebirge eine Hundeschule und ein Heuhotel in einem ererbten Hof betreibt.
Beim Kennenlernen der Leute ist schnell Sympathie übergesprungen. Daher habe ich Herr Wagner bald gefragt, ob ich nicht als Instrukteurin in seiner Hundeschule arbeiten könnte. Ich bin mir sicher, dass mir diese Arbeit mehr Spaß machen würde als mein bisheriger Bürojob.
Zusätzlich habe ich mich bei meinen Besuchen auf dem Hof mit Heinz angefreundet, dem Koch des angeschlossenen Heuhotels. Nun habe ich meinen Job und meine Wohnung gekündigt. Heute Vormittag, wieder einmal ein Samstag, komme ich mit kleinem Gepäck auf dem Hof an.