Mittwoch, 19. August 2020
Die Wölfin 03
Wieder nickt der Mann bei meinen Ausführungen. Dann fragt er:
„Waren Sie nach dem Traum schon einmal auf allen Vieren?“
„Ich habe mich lange nicht getraut,“ gebe ich zu. „Eine gewisse Scheu hielt mich zurück. Aber dann habe ich auf allen Vieren ein paar Handy-Videos gemacht und sie in die Community hochgeladen.“
„Ah, ja. Die habe ich gesehen. Aber das sinnfreie Spiel ist eine Sache. Die Interaktion mit Anderen ist schon etwas völlig anderes.“
Ich nicke und antworte:
„Ich weiß, Herr Wagner. Deshalb bin ich ja nun hier!“
„Okay,“ entgegnet der Mann. „Soviel ich weiß, haben Sie die Hundeschule für eine Woche gebucht. Wie nennen Sie sich als Hund?“
„Ich bin die ‚Vanja‘,“ sage ich. „Das ist ein kroatischer Name, weil ich anscheinend in einem früheren Leben von dort herstamme. Ich bin eine junge Wölfin.“
„Oh, okay,“ antwortet er. „Aber auch Wölfe lassen sich sozialisieren… wenn sie als Welpe in die Obhut von Menschen kommen.
Sie haben sicher den kleinen Bergwald unterhalb dieses Anwesens gesehen. Um dort herumlaufen zu können, sollten Sie anfangs noch Knieschoner anlegen. Warten Sie eben! Ich will welche holen.“
Sprach es, erhebt sich und betritt den Raum unter dem Entree, der dann wohl so etwas wie der Geräteraum der Schule ist. Ich schaue Ennie an. Sie nickt mir aufmunternd zu und lächelt mir zu. Anschließend legt Herr Wagner mir die Knieschoner über der Hose an und sagt, ich solle auf alle Viere herunter gehen. Ich tue es und er zupft noch etwas an der Hose, bis er zufrieden ist.
Danach sagt er:
„Bis Mittag sind es noch zwei bis drei Stunden. Ich lasse euch hinaus und ihr lauft achtsam zum Wäldchen und hindurch. Der leere Magen wird euch zurückführen. Vanja, Sie werden die Gestik und Mimik verwenden, für die Kommunikation mit Ennie. Das wäre auch für sie etwas Lehrreiches.“
Er lässt uns aus dem Schulungsraum hinaus und geht auf der Treppe ins Erdgeschoß vor. Dort öffnet er eine Seitentür und lässt uns vor das Haus treten. Noch stehen wir hier unter dem überhängenden Dach. Ich schaue zurück, wie auch Ennie. Herr Wagner lächelt uns an, winkt uns zu und schließt die Tür.
Nun schaue ich zu Ennie.
‚Das war aber jetzt kurz,‘ denke ich mir. ‚Kein Training?‘
Ennie geht los, dreht sich nach wenigen Schritten etwas und schaut zurück. Mit einem „Bow“ fordert sie mich auf, ihr zu folgen. Ich hole zu ihr auf und wir laufen vorsichtig die fast hundert Meter bis zu den ersten Bäumen. Dabei sind wir auch etwa 10 Meter tiefer gekommen. Ennie gibt einen Zick-Zack-Kurs vor, der uns um einige Felsblöcke herumführt.
Nachdem wir weit genug vom Hof entfernt sind, sagt sie zu mir:
„Du musst darauf achten, wo du hintrittst. Das bewahrt dich einerseits davor zu stolpern, andererseits kann in einer Senke vor dir plötzlich etwas liegen, worauf du mich aufmerksam machen möchtest. Nutze dafür die nonverbale Kommunikation der Caniden! Benimm dich ganz so, wie ein Hund oder Wolf sich in der gleichen Situation benehmen würde. So lerne ich aus der Situation heraus, welche Geste was bedeutet. Später sprechen wir dann darüber. Sei aber vorsichtig! Klettere nicht zu sehr herum. Bleib auf möglichst ebenem Gelände, damit du nicht abstürzt. Wenn du in Richtung der Abbruchkante läufst: Halte dich vom Abhang fern!“
„Okay,“ meine ich und halte beim langsamen Vordringen in die Landschaft den Blick gesenkt. Ich weiß zwar nicht, was wir suchen.
‚Aber ich werde schon irgendetwas finden,‘ denke ich mir.
Ennie entfernt sich mit jedem Schritt ein wenig mehr von mir.
Plötzlich liegt vor mir ein Loch. Ich meine, ich hätte eine flüchtige Bewegung gesehen. Ein kleines Tier wird darin verschwunden sein. Ich bleibe vor dem Loch stehen, und hebe den Kopf. Ein „Bowwwwww Bow Wow“ verlässt meinen Mund. Dann schaue ich kurz noch einmal nach unten, wiederhole meinen Ruf und beginne damit, die Ränder des Loches zu vergrößern.
Wenige Minuten darauf ist Ennie bei mir.
„Ah, das war das Heranrufen, wenn du etwas gefunden hast,“ kommentiert sie mein Verhalten.
„Sorry, ich habe vollkommen aus dem Gefühl heraus gehandelt,“ sage ich. „Ich war so ‚weg‘, dass ich es ohne zu überlegen einfach gemacht habe…“
„Aber genau darum geht es ja!“ antwortet sie mir lächelnd. „Denke nicht nach! Handele spontan gefühlsmäßig!“
Wir bleiben bestimmt mehrere Stunden in diesem Wäldchen. Dann klettern wir zum Wagner-Hof zurück. Bei dieser Rücktour nimmt Ennie einen Zweig vom Boden auf und lässt mich mit ihr darum streiten. Dabei nähern wir uns dem Hof, während wir uns gegenseitig verfolgen und versuchen, den Zweig zu erhaschen. Solch eine spielerische Verfolgungsjagd ist ja ein beliebtes Spiel unter Caniden. Mit Rücksicht auf mich macht sie dabei einige Pausen.
Auf dem Rückweg fordern wir uns mittels Spielverbeugung gegenseitig auf, den Zweig abzugeben. Manchmal geht nur unter Knurren und Schubsen. Auch legt sich die aktuelle Besitzerin des Zweiges schonmal ins Gras und hält ihn unter ihrem Bauch versteckt. Wenn Ennie mir dabei zu wild wird, drehe ich mich auf den Rücken, ziehe Vorder- und Hinterläufe an und zeige so die Unterwerfungsgeste.
Ennie hat mich auf dem Rückweg in weitem Bogen zum Haupteingang geführt. Auf diese Weise hätten wir mögliche Radtouristen mit ihren Mountainbikes frühzeitig erkennen können. Da die Luft rein zu sein scheint, betreten wir das Haus auf allen Vieren. Wir laufen durch den Speisesaal und finden zwei Schalen mit Essen vor und zwei Flaschen, wie sie Radrennfahrer unterwegs nutzen. Unser Essen steht hinter dem Durchgang, gegenüber der Treppe und neben der Schwingtür zur Küche.
Anschließend führt mich Ennie durch die gläserne Doppeltür hinaus auf die Terrasse. Seitlich neben der Tür und unterhalb des Begrenzungsmäuerchens liegen zwei Schaffelle. Sie lächelt mich an und legt sich auf eines. Also nehme ich das andere Schaffell in Beschlag, lege mich darauf ab und beginne bald zu dösen.
Nach dem Sonnenstand zu urteilen, werden wir später Nachmittag haben, als sich Herr Wagner zu uns gesellt und wissen will, wie unser Ausflug verlaufen ist. Er lässt uns sämtliche Details noch einmal in Gedanken durchleben, so dass wir dabei gleichzeitig eine Unterweisung in nonverbaler Kommunikation bekommen, deren Dozenten Ennie und ich selbst sind. Herr Wagner moderiert nur.