Montag, 17. August 2020
Die Wölfin 01
Ich heiße Lea und bin Petplayerin. Das heißt, ich gehe in meiner Freizeit auf alle Viere und spiele mit dem Hundespielzeug, das ich mir für wenig Geld im Tierzubehör gekauft habe. Dort habe ich mir auch ein ledernes Halsband gekauft und auf den Anhänger in Knochenform ‚Vanja‘ prägen lassen.
Im Internet recherchiere ich nach Leuten, die ein Tier in sich spüren, und stoße auf eine Petplay-Community. Interessiert und neugierig melde ich mich dort unter dem Pseudonym ‚Vanja‘ an und schreibe in meinem Profil, dass ich mich als Wolf oder Hund fühle.
Wie auf vielen Plattformen, muss ich mich auch hier der vielen Männer erwehren, die meinen, jemanden für ONS gefunden zu haben. Systematisch lösche ich die Mails vor jeder Sitzung und lese mich durch das Forum und die Gruppen. Als die Anfragen zunehmen, lade ich ein paar kurze Videos von mir hoch, mit meinem Handy selbst aufgenommen und betitelt mit ‚Vanja spielt‘. Dort bin ich in T-Shirt und Leggins auf allen Vieren zu sehen. Den Vierfüßler-Gang gibt es tatsächlich unter dem Begriff ‚Bearcrawl‘ als Workout-Sportart, habe ich im Internet gesehen. Dabei muss ich den Gang schon viel länger beherrschen, weil er mir irgendwie vertraut ist.

*

Ich weiß nicht mehr genau, wann das war: Es mag ein Traum in der Nacht gewesen sein, in dem ich mich als Kind mitten im Wald gesehen habe. Am Vortag hat mich ein Bericht über den Jugoslawien-Krieg derart emotional aufgewühlt, dass ich in der darauffolgenden Nacht einen Alptraum gehabt habe, durch den ich schweißgebadet erwacht bin.
Ich habe geträumt, dass meine Eltern und andere Leute aus unserem kleinen Heimatort von bösen Männern in den Wald getrieben worden sind. Dort haben sie so lange Stangen auf uns gerichtet. Dann hat es in schneller Folge geknallt, so dass ich mich erschreckt an meine Mama gekuschelt habe. Mama ist so hingefallen, dass sie halb auf mir gelegen hat. Geschockt habe ich keinen Ton mehr von mir gegeben. Dann sind die Männer scherzend davongegangen.
Als alles ruhig ist, versuche ich von Mama frei zu kommen. Danach probiere ich, sie zu wecken und beginne wieder zu weinen, weil Mama nicht aufwachen will. Mama bleibt unbeweglich liegen.
Da sehe ich zwischen den Bäumen große Hunde, die zu mir herüberschauen. Ich krabbele auf sie zu, aber sie laufen weg. Schließlich bin ich da, wo ich sie zuletzt gesehen habe und schaue mich um. Weit entfernt sehe ich für einen Moment wieder so einen Hund. In diese Richtung orientiere ich mich nun.
Immer wieder taucht kurzfristig ein Hund auf, schaut in meine Richtung und verschwindet wieder. Ich krabbele immer weiter. Immer dorthin, wo ich den großen Hund zuletzt gesehen habe.
Schließlich öffnet sich ein großes Loch vor mir im Boden. Ein Hund streckt den Kopf heraus, fletscht die Zähne und knurrt mich an. Erschreckt bleibe ich an Ort und Stelle liegen.
Bald kommt der Hund heraus und läuft weg. Kurz darauf verlassen zwei kleine Hunde das Loch, bleiben aber an Ort und Stelle und beginnen miteinander zu spielen. Kurze Zeit danach werde ich in ihr Spiel einbezogen und mache auch gerne mit.
Irgendwann kommt der große Hund zurück. Die kleinen Hunde springen an seinem Kopf hoch und fiepen. Nun würgt der große Hund Fleischbrocken hervor, über die sich die Kleinen hermachen. Als ich das sehe, knurrt mir der Magen und ich krabbele näher. Während die kleinen Hunde wieder an dem Großen hochspringen, mache ich mich über die beiden restlichen Fleischbrocken her.
Der große Hund ignoriert die Kleinen jedoch und läuft wieder weg. Als es dunkel wird, ziehen sich die kleinen Hunde in das Loch zurück. Mutig krabbele ich hinterher und kuschele mich drinnen an die Beiden an.
Das Mondlicht scheint herein, bis sich der Eingang verdunkelt. Es ist der große Hund, der sich hereindrückt. Drinnen würgt er noch einmal Fleischbrocken hervor, über die wir drei Kleinen uns nun gemeinsam hermachen.
In diesem Stadium des Traumes werde ich wach. Schweißgebadet kann ich die restliche Nacht nicht mehr schlafen. Auch während der Arbeitszeit im Büro bin ich irgendwie ‚durch den Wind‘. Als ich nach der Arbeit endlich zuhause bin, recherchiere ich beunruhigt im Internet über ‚Feral Childs‘. Der Jugoslawien-Krieg ist ja vor meiner Zeit gewesen. Es gab damals einige Fälle von ‚Wolfskindern‘, lese ich, aber ob alle Fälle bekannt geworden sind?
Vielleicht ist ein kleines Kind in der Wildnis gestorben, trotzdem es von Wölfen versorgt worden ist, und seine Seele lebt nun in mir weiter? Seelenwanderung und Wiedergeburt ist etwas, dass mich schon seit meiner Pubertät interessiert hat. Seit damals fühle ich etwas in mir, kann es aber nicht richtig fassen. War der Traum in der letzten Nacht etwa ein Hinweis?

*

Mir fällt bei der Recherche in der Petplay-Community eine Gruppe auf. Sie nennt sich ‚Hundeschule‘. Elektrisiert bleibe ich hängen. Ich melde mich dort an und lese mich ein. Endlich weiß ich, was ich zu tun habe! Mein nächster Urlaub auf ‚Balkonia‘ wird flachfallen! Ich frage den Administrator der Gruppe, wo ich genau hinfahren muss, um das Rollenspiel endlich real erleben zu können. Er nennt mir einen Hof im Südwesten Deutschlands.
Acht Wochen später beginnt mein Urlaub. Mein Auto bringt mich nach etwas mehr als fünf Stunden Fahrt ans Ziel. Es ist ein landestypisches Haus mit einem Stallgebäude.
Ich werde freundlich begrüßt und in den Stall geführt. Innen erklärt man mir, dass der jetzige Besitzer die Landwirtschaft aufgegeben hat. Die Ländereien hat er an seine Nachbarn verpachtet und den Stall zu einem ‚Heuhotel‘ umgebaut. Hier können nun Radwanderer in Schlafsäcken auf einer Strohunterlage übernachten, oder eben – wie ich – interessierte Petplayer.
Ich richte mich in einer strohbedeckten ‚Box‘ ein und spaziere anschließend neugierig um die Gebäude herum. Hinter dem Haupthaus, dort wo ich eine Terrasse vermutet hätte, verwehrt eine Sichtschutzwand neugierige Blicke. Als die Essenszeit heranrückt, betrete ich das Haupthaus über den vorderen Eingang. Hinter dem Entree öffnet sich ein größerer Raum mit Tischen, Stühlen und einen offenen Kamin.
Dort finde ich mein Gedeck neben dem prasselnden Kaminfeuer. Im Augenblick scheine ich der einzige Gast des Hauses zu sein, was mir der Mann in Kochkleidung auch bestätigt, der mich nach meinen weiteren Wünschen fragt.