Sonntag, 30. August 2020
Yamato Meinu - 02
Zu mir sagt er nun:
„Kommen Sie, Mackenzie-San, setzen wir uns. Ich glaube, Sie platzen vor Neugier. Gleichzeitig müssen Sie aber auch etwas essen!“
„Zuerst einmal möchte ich wissen, wo ich hier bin und was ich hier soll,“ entgegne ich ihm entschieden.
„Natürlich,“ meint er und ergänzt lächelnd: „Wir haben Erkundigungen eingezogen. Danach kommen Sie aus einer Hundeschule in Edmonton, Kanada. Sie sind dort langjähriger Hundetrainer und haben sich mit der nonverbalen Kommunikation der Hunde beschäftigt.“
Er unterbricht sich, denn Yuna serviert uns ein Essen. Nachdem sie den Raum wieder verlassen hat, redet er weiter:
„Ich weiß nicht, in wie weit sie Japan schon kennen und seine Mythologie. Ich fange also einmal ‚ganz von vorne‘ an: Unsere höchste Gottheit im Shinto ist die Sonne. Sie ist weiblich. Manche Wissenschaftler gehen deshalb davon aus, dass die Gesellschaft früher einmal matriarchalisch aufgebaut war.
Irgendwann hat sich das Machtgefälle in der Gesellschaft allerdings gedreht. Seitdem ist sie patriarchalisch und hierarchisch aufgebaut. Ob es da einmal einen Kampf zwischen Männern und Frauen gegeben hat, den die Frauen verloren haben, ist Spekulation. Das lässt sich nach Jahrtausenden nicht mehr feststellen. Beschreiben wir also die heutige japanische Frau: Ihr vorherrschender Wesenszug ist es willensstark zu sein. Sie kann sich durchsetzen, wenn sie es muss. Ihr Schicksal erträgt sie unbewegt, auch wenn es mit psychischen oder physischen Schmerzen verbunden sein sollte.
Dabei ist sie nicht selbständig oder unabhängig, wie die Frau im Westen. Sie tut alles für ihren Vater, später für ihren Chef oder ihren Mann. Sie ordnet sich gerne unter und bringt alle nötigen Opfer zum Wohlergehen und Schutz ihrer Familie oder Firma, bzw. Organisation. Familie, Firma oder Organisation ist ihr also wichtiger als ihre persönliche Entfaltung – im Gegensatz zur westlichen Frau.“
Ich nicke und frage, leicht genervt:
„Das ist ja alles wunderbar! Aber was habe ich damit zu tun?“
Mein Gegenüber lächelt milde und sagt:
„Warten Sie! Neben der Sonnengöttin kennt die Mythologie des Shinto eine Vielzahl von Kami. Da wir glauben, dass in jedem Wesen ein Kami wohnt, könnte man die Kami für Westler auch mit dem Begriff ‚Seele‘ übersetzen. Damit muss man natürlich akzeptieren, dass in jedem Wesen etwas Göttliches existiert. Somit muss man jedes Wesen mit großem Respekt behandeln. Wir Japaner gehen sogar soweit, dass wir in der Natur und den Naturphänomenen, respektive -katastrophen ebenfalls Kamis sehen.“
Ich nicke und meine gelangweilt: „Aha!“
Aber mein Gegenüber lässt sich nicht beirren. Lächelnd erklärt er weiter und kommt damit dem Kern der Sache näher:
„Der japanische Wolf wird in mythologischen Texten nun nicht wie in den entsprechenden europäischen Texten als böser ‚Werwolf‘ dargestellt, sondern als ein gutes Tier. Er ist Beschützer, Helfer der Armen und Verletzten und Warner vor Naturkatastrophen. Sein Kami meint es gut mit den Menschen. Dennoch kann er auch bedrohlich werden, wenn die Menschen ihm nicht mit Respekt und Ehrfurcht begegnen – so wie die ganze Natur manchmal bedrohlich für den Menschen wird.
Den Hund als Nachfahre des Wolfes müssen wir genauso respektvoll behandeln, aber wem sage ich das…“
Er schaut mich an und ich nicke ihm zu. Meine Neugier ist geweckt.
„Den Hund muss man behandeln wie ein Kind…“ plaudere ich aus meiner Arbeit. „Dann ist er zur Mitarbeit bereit.“
Mein Gegenüber neigt mir den Oberkörper lächelnd zu und antwortet:
„Sehen Sie, wir verstehen uns! Da in allen Geschöpfen Kamis existieren, haben wir Japaner kein Problem damit, in ein anderes Geschöpf zu transformieren. Unsere Frauen sind Menschen oder auch Hunde oder je nachdem Pferde mit jeder Faser ihres Seins!“
Jetzt schaue ich mein Gegenüber sehr erstaunt an. Wir haben inzwischen das Essen beendet. Der Mann hat sich und mir eine Schale mit Tee gefüllt. Nun ruft er:
„Keiko-Chan!“
Einen Augenblick später betritt Yuna mein Schlafzimmer, die Japanerin, die uns eben bedient hat, durch die offene Schiebetür. Jedoch ist sie dieses Mal völlig nackt und läuft auf Händen und Zehenballen. Ja, sie hat ihre Knie und die Fersen vom Boden abgehoben. So nähert sie sich in leichtem Trab meinem Gegenüber und setzt sich neben ihm auf ihre Fersen, die Hände zwischen ihren Knien auf den Boden gestützt.
Ich mache große Augen, während ich das Schauspiel beobachte. Mein Gegenüber spricht mit sanfter Stimme auf die Frau ein und streicht ihr zart über die Wange.
„Jaa, Keiko-Chan, du bist meine liebevolle Meinu…“
Danach teilt er ihr Haar und zieht ihr einen Scheitel mit einem Stäbchen.
Anschließend beginnt er, ihr zwei Zöpfe zu flechten. Als sie fertig sind, dreht er die Zöpfe zu kleinen Dutts über den Ohren und steckt sie mit Haarklammern fest, die er aus einer Tasche an seiner Kleidung holt.
Ein weiterer scharfer Befehl und ein junger Mann betritt den Raum mit einem Hundegeschirr, das der junge Mann nun der Frau anlegt. Mein Gegenüber erhebt sich und fordert mich auf:
„Kommen Sie, Mackenzie-San. Wir wollen einen Spaziergang in die Umgebung machen.“
Ein japanisches Wort, von meinem Gegenüber ausgesprochen, und der junge Mann entfernt sich wieder. Während er uns verlässt, erklärt mir mein Gegenüber Amatsuka-San:
„Das ist Yuuto-Kun, mein Meinu-Sei -Schüler-. Ich lehre ihm alles, was er zum Handhaben von Meinus wissen muss.“
Inzwischen hat er der jungen Frau, die auf allen Vieren zwischen uns verharrt, eine Leine in das Geschirr eingehakt und bewegt sich mit ihr an seiner Seite in Richtung der Schiebetür. Mir bleibt nichts anderes übrig, als den beiden zu folgen. Außerhalb meines Zimmers sehe ich einen Gang, der in beide Richtungen nach rechts und links wegführt. Zwei Schritte nach links öffnet sich ein weiterer Gang, an dessen Ende eine Tür nach draußen führt. Dort gibt es einen breiten Vorsprung, der auf der Ebene des Hauses rundum zu führen scheint. Rechts und links gibt es eingeschossige Anbauten und vor uns liegt ein Hof mit sandbedeckten Wegen zwischen einzelnen bepflanzten Beeten, ein typisch japanischer Garten.