Dienstag, 18. August 2020
Die Wölfin 02
Es sei gerade keine Saison, entschuldigt er die Leere. ‚Aber so habe ich die ungeteilte Aufmerksamkeit des Personals‘, lächele ich in mich hinein.
Da inzwischen Abend ist, gehe ich nach dem Essen wieder in meine Box im Stall zurück und lege mich schlafen. Nach der langen Fahrt bin ich rechtschaffen müde.

*

Am nächsten Morgen begebe ich mich, nachdem ich mich frisch gemacht habe, in den Speiseraum und finde ein reichhaltiges Frühstück am selben Platz neben dem brennenden Kamin, an dem ich gestern Abend schon gesessen habe. Bis jetzt habe ich nur einen reinen Gastbetrieb kennengelernt. Ich nehme mir vor, den Koch nach dem Frühstück auf die Hundeschule anzusprechen. Schließlich bin ich für Pet-/Dogplay hierhergekommen.
Ich sitze mit dem Rücken zum Treppenhaus am Tisch. Als der Koch mein Geschirr abräumt und mich fragt, ob ich noch einen Wunsch hätte, will ich gerade zu der Frage ansetzen, als ich eine Bewegung in den Augenwinkeln wahrnehme. Den Kopf wendend, sehe ich eine menschliche Gestalt auf allen Vieren, die sich mir nähert und sich neben meinem Stuhl auf ihre Fersen in der SITZ-Position niederlässt.
Es ist eine Frau, höchstens zehn Jahre älter als ich, gekleidet in einen Overall mit Pfoten-Handschuhen und flexiblen Sportschuhen. Die Kleidung schließt am Hals mit einem Halsband ab. Ihre langen braunen Haare hat sie zu zwei Zöpfen geflochten, die zu zwei zierlichen Dutts rechts und links über den Ohren zusammengedreht worden sind.
Sie zwinkert mir zu und öffnet den Mund, um eine Art „Wow“ zu bilden. Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Nun lächelt die Frau mir zu und sagt:
„Willkommen in der Hundeschule Wagner! Du bist sicher Lea. Habe ich Recht?“
Ich entspanne mich wieder und bestätige ihre Annahme:
„Ja, die bin ich. Und wer bist du?“
„Ich bin Aenne Haberer, oder als Doggie ‚Ennie‘, zu Deutsch ‚Schwertkämpferin‘ oder ‚die Strahlende‘.“
Sie lächelt mich an und hebt die rechte ‚Pfote‘.
„Ah,“ mache ich, und lasse eine Pause entstehen.
Ennie redet weiter: „Ich soll dich nach dem Frühstück zur Schule führen. Deine Nächte kannst du weiterhin in deiner ‚Koje‘ oder ‚Box‘ hier verbringen, wenn du keinen Zwingerplatz möchtest.“
Ich nicke. ‚Oh, gut,‘ denke ich spontan.
„Hast du irgendein Outfit dabei, das du vorher noch anlegen möchtest?“ fragt Ennie, während ich mich erhebe.
Ich schüttele den Kopf.
„Nein, ich habe mein Dogplay bisher nur im Kopf gelebt. Zuhause habe ich nur T-Shirt und Leggins angehabt – und ein Halsband natürlich. Mir fehlt auch noch ein Owner.“
„Oookay,“ dehnt Ennie. „Dann hast du aber Sneakers, Handschuhe, eine bequeme Hose und ein Oberteil mitgebracht?“
„Ja, das habe ich!“ bestätige ich ihre Frage.
„Gut, dann geh‘ dich eben umziehen. Ich warte hier solange,“ sagt sie nun.
Ich nicke und gehe durch den Durchgang, der Haupthaus und Stall miteinander verbindet. Wenige Minuten später komme ich in leicht verändertem Outfit zurück in den Speiseraum.
‚So,‘ denke ich, ‚kann ich Ennie begleiten.‘
Ennie umrundet auf allen Vieren den Kamin, der an einer Wand hochgezogen worden ist und steht nun vor einem Treppenhaus. Sie wartet bis ich neben ihr stehe, dann betritt sie die Treppe nach unten. Dafür geht sie leicht schräg. Sie beginnt mit der rechten ‚Vorderpfote‘, zieht dann die rechte Hinterpfote nach. Es folgt die linke Vorderpfote, während sie gleichzeitig mit der rechten Vorderpfote eine Stufe tiefer nimmt.
Auf diese Weise dauert es etwas, bis wir auf der Tiefebene des Haupthauses angekommen sind. Ennie nutzt dafür ebenfalls den Bearcrawl als vierfüßige Fortbewegungsart. Ich folge ihr langsam als Zweibeiner aufrechtgehend, da ich noch nicht weiß, was mich hier erwartet. Innerlich platze ich jedoch vor Neugier.
Unten angekommen läuft Ennie den Gang entlang, der vom Treppenhaus wegführt. Nach einigen Metern erreichen wir rechter Hand eine verschlossene Tür, die in den Raum unter den Speiseraum führt. Der Gang hat linker Hand noch zwei Türen, die Ennie aber ignoriert. Sie macht vor der Tür MÄNNCHEN und drückt mit einer der auf Schulterhöhe gehobenen Pfoten die Klinke herunter. Die Tür springt auf und schwenkt in den Raum hinein.
Ich sehe mich in einem großen Raum mit den gleichen Ausmaßen, wie der Speiseraum darüber. Helle Leuchtstoffröhren verbreiten ihr Licht von der Decke. Lichtschächte an den Seiten sorgen für Luftaustausch. An der gegenüberliegenden Wand führt eine weitere Tür in einen Raum unter dem Entree darüber. Man kann mit federnden Schritten über ein Holzparkett gehen, auf das verschiedene Symbole farblich aufgetragen wurden.
In einer Ecke steht eine Eckcouch mit einem Couchtisch und ein Wasserspender, ansonsten ist der große Raum leer. Wir gehen auf einen Mann zu, der dort einsam sitzt und auf uns zu warten scheint. Vor ihm auf dem Tisch stehen zwei Becher und eine Flasche mit Mundstück.
Er erhebt sich bei unserem Eintreten und lächelt uns entgegen. Der Mann ist mir irgendwie sofort sympathisch. Wir begrüßen uns mit Handschlag, dann bietet er mir an, neben ihm Platz zu nehmen.
„Willkommen auf dem Wagner-Hof,“ sagt er. „Sie kennen mich von der Petplay-Community her.“
Ich habe mich inzwischen auf die Couch übereck zu ihm gesetzt und höre ihm zu.
„Darf ich Ihren Hintergrund erfahren? Wie sind Sie zum Petplay gekommen und welches Tier fühlen Sie in sich? Was fasziniert Sie besonders daran?“ fragt er nun.
Den Kopf etwas schief legend erzähle ich ihm von dem Traum, von dem ich annehme, dass er in einem Wald irgendwo in Jugoslawien abgelaufen sein muss. Er hört mir aufmerksam zu und nickt hier und da.
Anschließend fragt er: „Sie können wirklich spontan die Gestik eines Hundes deuten?“
„Nach dem Traum habe ich das bei Begegnungen auf Spaziergängen des Öfteren versucht und ich denke, es ist mir immer besser gelungen. Die Schwierigkeit ist ja, dass die Gesten jeweils nach momentaner Situation etwas anderes bedeuten können.“