Donnerstag, 20. August 2020
Die Wölfin 04
Währenddessen habe ich einen wunderschönen Sonnenuntergang erlebt. Nun in der Abenddämmerung beendet Herr Wagner die Unterweisung und wir gehen zurück ins Haus. Drinnen öffnet mir der Hofbesitzer den Durchgang zum Stall. Ich bin immer noch auf allen Vieren, als ich meine Box erreiche und ins Stroh lege. Es dauert nicht lange bis ich eingeschlafen bin.

*

Am nächsten Morgen versuche ich, mich in der Position als Vierbeiner zu duschen. Es ist schwierig, auf diese Art die Armaturen zu bedienen. Auch für das Abtrocknen bräuchte ich wohl besser eine helfende Hand. So wälze ich mich auf dem flauschigen Badetuch und reibe mich ein wenig darauf. Auf diese Art bekomme ich nur meine Haare nicht trocken.
Danach gehe ich durch den Durchgang ins Haupthaus zurück. Die Türen öffne ich, wie Ennie das mir vorgemacht hat, indem ich auf die Fersen steige und den Rumpf senkrecht halte. Da die Verbindungstür zwischen Stall und Haupthaus aber zu mir aufschwingt, wird daraus ein Tänzeln um das Türblatt herum.
Trotz der Schwierigkeit erreiche ich bald die Näpfe neben der Schwingtüre zur Küche. Ich stelle freudig lächelnd fest, dass sie schon gefüllt sind. Sofort mache ich mich über meinen Napf her.
Kurz darauf höre ich Geräusche von der Treppe her und sehe Ennie, die die Treppe herunterkommt. Ich begrüße sie mit einem freudigen „Bow“ und beuge mich wieder über den Napf. Heute Morgen habe ich einen riesigen Hunger.
Während ich mich auf das Essen konzentriere, kommt sie näher und schnüffelt an meinen Haaren. Ich stelle mich gerade hin und flüstere:
„Leider kann man sich als Hund nicht richtig duschen… Das Abtrocknen geht nicht alleine. Als Wolf in der freien Natur muss das die Sonne übernehmen…“
Sie nickt und dreht sich zur Treppe. Dort klettert sie mit den Vorderläufen zwei Stufen höher und bellt ins Obergeschoß: „Bow Wow! Bow Bow Wow! Bow Wooooowww…“
Oben lässt sich Herr Wagner vernehmen:
„Ist ja gut, Ennie! Ist ja gut! Ich bin sofort unten!“
Wirklich betritt Herr Wagner sofort darauf die Treppe und läuft die Stufen hinunter. Ennie zwinkert mir mit einem verschwörerischen Gesichtsausdruck zu. Unten an der Treppe angekommen, überblickt Herr Wagner erst einmal die Szenerie und schaut dann Ennie fragend an. Sie runzelt die Stirn und umrundet ihren Master halb. Dann lehnt sie sich an, so dass Herr Wagner einen Schritt vor machen muss. Das wiederholt sie ein paar Mal. Herr Wagner fragt unterdessen verlegen lächelnd:
„Was ist los, Ennie? Ist etwas mit dem Frühstück nicht in Ordnung? Was machst du mit mir?“
Bei mir und den Näpfen angekommen, lässt Ennie von ihm ab und kommt wieder zu mir. Wieder schnüffelt sie an meinen Haaren. Herr Wagner beugt sich zu uns herunter, streichelt Ennie über den Rücken und mir über den Kopf.
„Hey, du bist ja noch ganz nass! Warst du schwimmen am frühen Morgen?“ sagt er jetzt und verzieht sein Gesicht zu einem ironischen Lächeln. „Ich gehe und hole den Fön! Oder besser: Komm mit nach oben, Vanja!“
Er wendet sich wieder zur Treppe und wir lächeln uns an. Wir folgen ihm in die Privatwohnung im Obergeschoß und betreten hinter ihm ein rustikales Badezimmer. Er angelt nach dem Fön, steckt ihn in die Steckdose und wendet sich mir zu. Mithilfe einer Bürste und des Föns ist mein Haar schnell trocken. Anschließend essen wir unten die Näpfe leer, während Herr Wagner in der Küche mit dem Koch isst.
Anschließend steigen wir zu dritt ins Untergeschoß herab und betreten den Schulungsraum.
Wir stellen uns im Dreieck auf und schauen uns an. Herr Wagner holt eine süße getrocknete Beere aus einer ledernen Gürteltasche und zeigt sie mir. Ich nähere mich erwartungsvoll seiner Hand. Aber er führt seine Hand über meinen Kopf nach hinten. Ich folge mit meinem Blick neugierig seiner Hand mit der Beere und muss mich auf meine Fersen setzen, damit ich mein Gleichgewicht nicht verliere.
Genau in diesem Moment sagt er „SITZ!“ und schiebt mir lächelnd die Trockenfrucht in den Mund. Danach streicht er mir sanft über den Kopf und sagt:
„Gutes Mädchen, Vanja! Genau das will ich erreichen, wenn ich SITZ! sage.“
Er macht eine kurze Pause. Dann sagt er:
„Das Wort ‚BLEIB!‘ heißt, du sollst STEHEN bleiben, wo du bist. Damit ich zu dir kommen kann. Aber wenn du dich setzt oder legst bis ich bin bei dir, ist das auch okay.“
So führt er mich an diesem Tag durch etwa 24 verschiedene Kommandos. Das Kommandotraining unterbricht er ab und zu mit Hundespielen, wobei er auch Ennie mit einbindet, sonst wäre Ennie der Tag bestimmt langweilig geworden. Zum Mittag- und Abendessen gehen wir nach oben.
Am Abend dieses Tages, mein zweiter Tag auf dem Wagner-Hof, resümiere ich im Bett vor dem Einschlafen, ob dies das Leben ist, das ich mir erträumt habe. Es ist das erste Mal, dass ich Petplay in Interaktion mit anderen Petplayern spiele. Was mir fehlt, ist ein Mann, der das Zeug zu einem Herrn hat; der souverän mit einem Wolf umzugehen weiß. Ich habe meinen eigenen Kopf und reagiere manchmal nicht wie ein gehorsamer Hund.
Irgendwann bin ich doch eingeschlafen.
Wie lange ich schließlich geschlafen habe, kann ich nicht festmachen. Als ich wach werde, ist es noch dunkel. Ich habe wieder von den Wölfen geträumt, die mein zweites Ich gerettet und ernährt haben bis es wohl an einer Infektion gestorben ist. Ich habe alles durch die Augen des Kleinkindes erlebt. So habe ich auch erlebt, wie es seinen Körper verlassen hat. Es ist über dem Wald geschwebt und dann, wie vom Wind getragen, davon getrieben.
Unter ‚mir‘ sehe ich schneebedeckte Gipfel, dann hügeliges Gelände mit Feldern und Wiesen, Flüssen und kleinen Wäldern. Dann wieder ein Gebirgszug. Dieses Mal sind die Gipfel nicht schneebedeckt, aber felsig. Dazwischen grüne Täler und mäandernde Flüsschen. An einem flachen Berghang ein Wäldchen, Wiesen und ein Haus mit Anbau, das mir bekannt vorkommt.
In diesem Moment wache ich auf und bin im ersten Moment etwas verwirrt. Ich brauche einige Momente, um zu realisieren, wo ich bin und was ich hier mache. Dann fällt mir mein aktueller Traum wieder ein. Will mein zweites Ich mir sagen, dass hier auf dem Wagnerhof meine neue Heimat ist? Oder dass ich hier einen Mann treffen werde, der selbst noch nichts von seinem ‚Glück‘ weiß?