Nicci (19)
„Du sagtest eben, du strafst die Doggie nicht körperlich…“
„Ja…“
Er schaut mich erwartungsvoll an.
„Also strafst du doch!“
Peter lächelt mich an.
„Schau mal,“ beginnt er. „Im Zusammenleben kommt es immer wieder mal vor, dass einer die Erwartungen des Anderen nicht erfüllt. Die erste Reaktion ist dann doch, dass derjenige enttäuscht ist und das auch zeigt. Ich ziehe mich dann meist auf mich zurück, wende mich von dir ab, ignoriere dich einen Moment.
Wie kannst du damit umgehen? Entweder du versuchst, meine Erwartungen zu erfüllen; gibst dir Mühe und ich bin erfreut. Oder du kommst auf mich zu, versuchst durch körperliche Nähe die unsichtbare Mauer aufzubrechen, was dir leichtfallen würde. Oder du ziehst dich nun selbst zurück und wartest, dass ich wieder auf dich zu komme. Dann könnte dir allerdings langweilig werden – möglicherweise. Da hat schon einmal jemand gesagt ‚Ignorieren ist schlimmer als Schlagen‘. Noch eine Möglichkeit hast du: Du beschäftigst dich selbst – so als hätte ich das Kommando FREI ausgesprochen…“
„Hm,“ brumme nun ich und hänge wieder meinen Gedanken nach.
Da beginnen die Gleise zu singen. Ich schaue auf und sehe den Zug in einiger Entfernung auf den Bahnhof zukommen. Peter erhebt sich und auch ich stehe auf. Wir treten an die weiße Linie am Bahnsteig und warten bis der Zug gestoppt hat. Während sich nun die Türen öffnen, gehen wir zum nächstgelegenen Einstieg und nachdem die Leute dort ausgestiegen sind, betrete ich den Waggon. Peter stellt die Reisetasche neben mich und kommt in die Tür. Wir umarmen uns und geben uns einen kurzen Abschiedskuss, denn schon hören wir die Durchsage, dass die Türen freigemacht werden sollen. Peter tritt zurück und geht ein paar Schritte winkend neben der Tür her, bis der Zug Geschwindigkeit aufnimmt.

*

Eine Woche ist vergangen. Ich habe die wichtigsten Entscheidungen getroffen, die bald mein Leben total auf den Kopf stellen werden. Zwischendurch haben wir immer wieder SMS getauscht. Peter hat sich darauf verlegt mir liebe Gedichte zu schicken, wenn ich ihn nicht mit irgendeinem Problem behellige, das er mit mir besprechen kann, um abschließend eine Entscheidung zu treffen.
Jeden Abend bekomme ich eine Nachricht mit einem lieben kleinen Spruch oder einem romantischen Bildchen, mit dem er mir eine gute Nacht wünscht. Mein Ex hat sich nie so sehr um mich bemüht!
Nun hat sich Peter für dieses Wochenende bei mir angesagt. Bis ich zu ihm ziehen kann, möchte er sich an den Wochenenden mit mir treffen, hat er schon bald nach unserem Kennenlernen gesagt. Innerlich bin ich froh darüber gewesen, habe aber gesagt, dass wir uns wechselweise bei ihm und mir treffen sollen. Er ist sofort darauf eingegangen.
Heute am Freitagabend gegen 21 Uhr will er bei mir sein, um dann am Sonntagnachmittag wieder nachhause zu fahren. Er sagt, die Fahrt dauert mit dem Auto etwa zweieinhalb Stunden. Ich bin schon den ganzen Tag aufgeregt gewesen. Eingekauft habe ich in den letzten Tagen schon. Jetzt stehe ich in der Küche und habe einen Kartoffelauflauf im Herd. Gegen Viertel vor Neun ist er fertig und ich lasse ihn bei geschlossenem Deckel langsam auskühlen, weil ich den genauen Zeitpunkt von Peters Ankunft nicht kenne.
Immer wieder schaue ich aus dem Fenster auf den Parkplatz. Endlich fährt sein Wagen vor und wenige Minuten später liegen wir uns in den Armen. Ohne viele Worte erkenne ich, dass es ihm in den vergangenen Tagen genauso ergangen ist wie mir. Seine SMS sind also aus dem Herzen gekommen.
‚Den musst du festhalten!‘ fordere ich mich selbst in Gedanken auf.
Wir setzen uns an den Esstisch und ich lasse mir während des Essens erzählen, wie es ihm in der verflossenen Woche ergangen ist und wie die Fahrt verlaufen ist. Auch ich rede über meine Sehnsucht, die meine Arbeitstage überdeckt hat.
Eine Sorge hat allerdings die Freude über das Wiedersehen während der vergangenen Tage getrübt. Ich spreche sie an. Peter hat mir von Anfang an gesagt, nicht nur meine Freude aus mir heraus zu lassen, sondern auch negative Gefühle zu thematisieren, wenn solche in mir aufsteigen. Also spreche ich mein Misstrauen mutig an:
„Wir befinden uns auf dem Weg, uns ineinander zu verlieben. Ich genieße es, wie du dich um mich und meine Angelegenheiten kümmerst! Aber was ist, wenn die Liebe irgendwann erlahmt? Wirst du dann wie mein Ex deiner Wege gehen und mich links liegen lassen?“
Peter schaut mich ernst an. Er antwortet nach kurzer Pause:
„Ich bin ja ebenfalls beziehungsgeschädigt. Du weißt, ich war verheiratet. Wie man das bei der Hochzeit so macht, verspricht man sich, aufeinander zu achten ‚bis dass der Tod uns scheidet‘…
Für mich ist das kein leerer Spruch. Er war durchaus ernst gemeint und ich würde mich heute noch dranhalten, wenn auch sie sich dran halten würde…
Sie hat nach einigen Jahren das begonnen, was du bei deinem Ex bemängelst. Trotzdem habe ich mich weiter um sie gekümmert, die Verantwortung für uns beide getragen. Auch wenn ich mich öfter bei ihr beklagt habe, dass das Ganze zu einer Einbahnstraße geworden ist, dass von ihr nichts zurückkommt. – Ich bin auf taube Ohren gestoßen! Aber ich hatte schließlich damals ein Versprechen abgegeben…
Dann ist mein Vater gestorben, und auf der Beerdigungsfeier hat sie die anwesenden Gäste mit Klatsch und Anekdoten unterhalten, sich also in den Vordergrund gespielt. Ich saß stumm und trauernd auf meinem Stuhl. Ich fühlte mich zwischen den lachenden Menschen überhaupt nicht wohl. Sie kümmerte sich um ihr Ding statt um mich. Eine Woche später bin ich zuhause ausgezogen.“
„Das wäre ich an deiner Stelle auch! Sowas geht gar nicht!“ stelle ich fest und lege meine Hand auf seine. Ich fühle, wie er zittert.
„Wir dürfen einander nicht aus den Augen verlieren, Liebes,“ redet er weiter. „Du bist für mich das wichtigste Lebewesen auf diesem Planeten! Du hast das Gleiche erlebt wie ich. Wir müssen halt frühzeitig die Anzeichen erkennen und gegensteuern! Ruhig schonungslos Probleme ansprechen! Im Frühstadium ist der jeweils Andere immer noch ansprechbar…“
„Wie willst du gegensteuern?“ frage ich neugierig.
„Nun, es gibt ein paar negative Einflüsse auf eine Beziehung, die man kennen muss: Zum einen, wenn uns der Andere egal zu werden beginnt, man lieber Seins durchziehen will. Dann, wenn uns der Andere nicht mehr genug ist, man immer Mehr und Mehr haben will. Und, wenn das Mitgefühl weniger wird und der Selbstsucht Platz macht. Auch, wenn die Angst vor der Vergänglichkeit größer wird – meist vor dem Ende des Mitgefühls. Wenn die Gefühle füreinander nicht mehr das Handeln bestimmen. Schließlich, nur noch zu glauben was man sieht, wenn also die Rationalität mehr Gewicht bekommt als die Emotionalität. – Und endlich die ständige Besserwisserei, die verblendete Selbstüberzeugung.“
„Hm, das ist eine Menge!“ bricht es aus mir heraus.
Peter lächelt mich an.
„Wenn du dir alles vor Augen führst, findest du Ähnlichkeiten. Die Punkte sind meist verschiedene Anzeichen des gleichen Problems.“
Ich bin einige Zeit still, während ich seine Hand festhalte.