Dienstag, 7. Juli 2020
Luna -08-
„Vor so einem Turnier muss trainiert werden. Wann und wo…“
„Jeden Dienstagnachmittag in der Turnhalle!“ sage ich schnell.
„Und wer…“ hakt Papa nach.
Er ist zu der Zeit noch mit dem Schiff unterwegs. Wieder antworte ich schnell.
„Mach dir keine Sorgen, Paps! Maik spielt in der Herrenmannschaft. Er begleitet mich. Mir passiert schon nichts!“
„Also gut,“ gibt er sich endlich geschlagen.
Ich ziehe den Mitgliedsantrag hervor und lege ihn ihm neben den Teller. Dabei schaue ich ihn noch einmal so an, wie es auch Beauty oft macht. Schließlich unterschreibt Papa den Antrag. Ich greife mir ihn und ziehe ihn spontan zu mir, um ihm einen dicken Kuss zu geben. Er lässt es geschehen und befreit sich erst allmählich von mir.
Er unterhält sich eine Weile mit Maik über die Schule, seine baldige Ausbildung, den Sport. Dann verabschiedet Maik sich höflich und fragt im Hinausgehen, ob er mich öfter besuchen und ab und zu mit mir ausgehen darf.
„…wenn sie spätestens um Zehn abends wieder zuhause ist!“ ruft Papa hinter ihm her.
Bevor ich die Wohnungstür hinter ihm schließe, antwortet er laut:
„Darauf werde ich achten!“
Zum Abschied beugt sich Maik zu mir herunter. Ich schließe ihn in meine Arme und ziehe mich ein paar Zentimeter aus dem Rolli, um ihm einen Kuss zu geben. Dann bekommt Papa einen extra innigen Gute-Nacht-Kuss und ich rolle in mein Zimmer, ziehe mich um für die Nacht und rolle dann ins Bad. Schließlich stelle ich den Rolli an seinen Platz und mache den einen Schritt in mein Bett. Beauty beobachtet mein Tun und legt sich dann auf ihren Platz am Fußende meines Bettes.

*

Zwei Tage darauf kommt Maik wie verabredet gegen 17Uhr. Ich bin mit den Hausaufgaben fertig. Mama lässt ihn herein und zeigt ihm mein Zimmer. Die Tür steht immer offen, damit Beauty laufen kann wohin sie will. Daher klopft Maik kurz an den Türrahmen. Ich schaue auf und lächele ihn an. Er tritt in das Zimmer und blickt sich um.
„Du kannst aber gut zeichnen,“ meint er anerkennend.
Ich habe mein Zimmer im Laufe der Zeit mit immer mehr selbst gezeichneten Anime-Bildern tapeziert. Bei unserem Umzug aufs Land habe ich den Tesafilm vorsichtig mit einer Klinge am Rand der Zeichenblätter abgeschnitten und hier alles eigenhändig wieder neu aufgehängt.
„Was zeigen die Bilder eigentlich alle,“ fragt er mich und setzt sich auf das Sofa neben dem Schreibtisch.
„Kennst du KEMONOMIMI?“ frage ich. „Nekomimi oder Inumimi?“
„Frag mich nach irgendwelchen Sportgrößen!“ versetzt er lächelnd. „Nein, leider kenne ich das nicht. Aber es interessiert mich, weil du mich interessierst!“
„Und du wirst niemals lachen oder mich verspotten?“
„Andrea!“ sagt er und wird unvermittelt ernst. „Ich weiß, was die Worte Achtung, Respekt und Toleranz bedeuten!“
„Entschuldige,“ lenke ich ein. „Ich wollte dich nicht kränken!“
„Mein Vater hat in der Großstadt Arbeit gefunden und in der Siedlung am Rand der Kleinstadt gebaut. Wir sind vor etwa zehn Jahren hergezogen – aus Süddeutschland. Damals habe ich einen ganz anderen Dialekt gesprochen, als hier auf dem Land. Inzwischen redet keiner mehr Dialekt. Damals aber wurde ich für meine Sprache ausgelacht und ausgegrenzt. Der Sport hat mir geholfen mich zu integrieren. Mein damaliger Sportlehrer hat mich auf die Schiene gesetzt. Und die positive Erfahrung möchte ich dir ebenso vermitteln, wenn du mich lässt.“
Ich lege den Stift hin, den ich in der Hand habe, drehe den Rolli in seine Richtung und stehe aus dem Sitz auf. Dann gehe ich die drei Schritte bis zu ihm in den Watschelgang, der mir einzig möglich ist, und lasse mich neben Maik auf das Sofa fallen. Er macht große Augen und hält seine Hände mir entgegen, als ob er mich auffangen wollte.
„Das nennt man Hüftluxation zweiten Grades,“ sage ich und schaue ängstlich zu ihm auf. Wie reagiert er wohl auf die Demonstration? „Ich bin als Baby operiert worden. Die Ärzte haben meinen Eltern erklärt, dass damit das Problem behoben sei. Wie man sieht war das eine Fehldiagnose!“
„Und jetzt?“ fragt er etwas atemlos und legt seinen Arm um meine Schultern.
„Nichts weiter. Ein paar Schritte kann ich ohne Schmerzen gehen, wenn es auch für Unbedarfte ungewöhnlich aussieht. Für längere Strecken habe ich den Rolli. – Oder dich krabbele auf allen Vieren. Das gefällt Beauty immer sehr.“
Ich lächele. In die entstehende Stille sage ich:
„Du wolltest etwas über Kemonomimi, Inumimi und Nekomimi wissen. Die Bildchen entstammen japanischen Zeichengeschichten, sogenannten Anime. Kemonomimi machen Anime-Anhänger, wenn sie sich eine Haarspange überziehen mit künstlichen Tierohren dran. Inu bedeutet Hund auf Japanisch und Neko bedeutet Katze.
Man sagt ‚Hunde sind des Menschen beste Freunde‘. Das ist sehr wahr. Hunde werden in vielen Familien wie ein Teil der Familie betrachtet, oft sogar von den Menschen wie ihre Kinder behandelt. Ein Anime-Manga handelt davon, dass drei Hündinnen sich in Mädchen verwandeln. Der einzige Unterschied ist, dass sie Pfoten, Hundeohren und Schwänze behielten.
Ein Mädchen, Elga, war ein Alaska Schlittenhund, sehr treu und liebt ihren Herrn. Sie hat ein freundliches Herz und verehrt ihren Herrn. Manchmal – in ihrer Hitze - ist dieser Charakterzug ein Fehler, Junge, Junge..
Luna ist die jüngste und niedlichste der Drei. Sie war ein Corgi, die gerade begonnen hat zu lernen. Sie ist sehr verspielt und mag es, die Welt zu entdecken. Sie muss jedoch noch ihre Grenzen kennenlernen. Sie ist glücklich ein Teil der Familie zu sein.
Rino war eine sehr selbstständige Dobermann-Hündin mit einer schwierigen Vergangenheit. Sie ist die älteste der Drei und hat durch ihren Vorbesitzer gelernt den Menschen zu misstrauen. Nun hat sie einen neuen Besitzer und ihr Verhältnis zu den Menschen beginnt sich allmählich zu ändern. Sie tendiert aber immer noch dazu, gegenüber Fremden aggressiv zu sein. Man sieht Rino oft dabei, wie sie die anderen Beiden führt und das Alphatier spielt.



Luna -07-
In den nächsten Tagen lasse ich mich überreden mit ihm zu dem Behinderten-Sportverein zu gehen und beim Training zuzuschauen. Ich werde dort herzlich aufgenommen und darf ein paar Minuten mitspielen, so dass ich mich gleich zuhause fühle. Ein Formular soll ich zuhause unterschreiben lassen, dass meine Eltern mit der Mitgliedschaft einverstanden sind. Dazu bitte ich Maik mir zur Seite zu stehen. Papa will mich vor allen Problemen des Alltags beschützen. Es könnte also passieren, dass er ablehnt, weil man beim Sport schonmal verletzt werden kann.
Meine Überlegung ist also, ihm Maik vorzustellen, Vertrauen zu schaffen und so seine Zustimmung zu bekommen mit dem Argument, dass Maik mich in den Zeiten schützt und stützt, in denen Papa nicht anwesend sein kann.
Nach meinen Hausaufgaben rolle ich also ins Wohnzimmer und spreche Mama darauf an:
„Mama…“
„Ja, Maus?“
„Ich habe in der Schule einen süßen Jungen kennengelernt…“
Sie schaut von ihrem Roman auf.
„Hey, das ist wunderschön! Wie heißt er denn? Wie ist er so?“
„Maik heißt er, ist zwei Klassen höher als ich und hat mich in der Schule vor der üblichen Sorte Jungs beschützt.“
„Ich freue mich für dich, wenn du endlich jemanden gefunden hast, den dein Rollstuhl nicht stört!“
„Nicht nur das! Er hat mir angeboten, im Behinderten-Sportverein Handball zu spielen. Er ist selbst in der Handballmannschaft im örtlichen Sportverein. Er würde auf mich achten.“
„Hm, du weißt, wie Papa darüber denkt!“
Ich kräusele die Stirn.
„Bitte leg ein gutes Wort bei Papa ein! Ich kann nicht mein Leben lang hinter Mauern vor der Welt beschützt werden. Beim Sport kann man sich schonmal verletzen – aber das ist etwas völlig anderes, als wenn schlechte Menschen mir etwas antun wollen!“
„Ich rede heute Abend mal mit Papa!“ sagt sie und nickt mir aufmunternd zu.
„Kannst du heute Abend Papas Lieblingsessen machen, Mama?“ lasse ich nicht locker. „Heute Abend kommt Maik, um sich bei Papa vorzustellen. Dabei möchte ich ihm den Mitgliedsantrag für den Sportverein gleich vorlegen…“
Ich schaue Mama mit meinem schönsten Augenaufschlag an. Mama lacht auf. Alle Skepsis ist aus ihrem Gesicht gewichen.
„Soso, du hast einen Frontalangriff geplant. Okay, ich gehe gleich in die Küche. Wenn Maik der ist, der er zu sein scheint, dann wickelst du in bekannter Art deinen Vater um den kleinen Finger!“
„Danke, Mama,“ sage ich und rolle ganz dicht an sie heran, um sie zu umarmen.
Gegen neun Uhr ist Papa an diesem Tag endlich zuhause. Mama hat den Tisch schon gedeckt. Als Papa sich dazu setzt, fragt er:
„Haben wir heute etwas Besonderes? Habe ich ein Datum übersehen?“
Mama setzt sich auch wieder, nachdem sie ihn begrüßt hat und füllt ihm seine Tasse mit Tee. Dann nimmt sie, leicht schmunzelnd, seinen Teller und füllt ihn. Als sie ihn vor Papa hinstellt, klingelt es an der Tür.
„Wer kann das jetzt noch sein?“ fragt er und schaut von Mama zu mir und wieder zu Mama.
Ich drehe meinen Rollstuhl schnell vom Tisch weg und rolle ihn in Richtung Wohnungstür. Maik steht wie erwartet davor. Er hat einen kleinen Strauß in der Hand und küsst mich auf die Stirn. Ich lasse ihn eintreten und rolle hinter ihm her zum Wohnzimmer.
„Guten Abend, Herr und Frau Weiler,“ begrüßt er meine Eltern und übergibt die Blumen an Mama, die aufgestanden ist, um die Blumen in eine Vase zu tun.
„Guten Abend,“ gibt Papa den Gruß zurück. Er hat sich auf dem Stuhl nur halb umgedreht. „Darf ich nach dem Grund…“
„Mein Name ist Maik Haller. Ich bin Andreas Freund. Ich wollte mich ihnen heute einmal vorstellen.“
„Ah,“ sagt Papa. „Dann nimm dir mal einen Stuhl und setz dich dazu. Du magst doch sicher eine Kleinigkeit…“
„Ja, gern,“ antwortet Maik und nimmt sich den Stuhl aus der Ecke, der dort steht, damit ich mit dem Rolli an den Tisch komme. Er setzt sich, während Mama die Vase mit den Blumen auf den Tisch stellt. Dann nimmt sie eine Tasse und einen Teller, um ihm auch eine kleine Portion anzubieten. Ich rolle wieder an meinen Platz zwischen Papa und Maik und suche Maiks Hand, um sie zu drücken und mich daran festzuhalten. Auch lehne ich mich bei ihm an. Das fällt Papa natürlich auf.
„Das kann aber nicht der einzige Grund für den heutigen Abend sein…“ sagt Papa lächelnd in die sich ausbreitende Stille.
„Papa,“ beginne ich nun. „Maik hat mich in der Schule beschützt, als man begann, über mich herzuziehen, nur weil ich anders bin. Damit war für ihn die Sache aber nicht gegessen. Er will mich weiterhin beschützen, stützen und fördern… Wir mögen uns!“
„Das finde ich bewundernswert!“ sagt Papa und schaut Maik direkt an. „Wie stellst du dir die Förderung vor?“
„Ich bin Mitglied im örtlichen Sportverein und möchte Andrea in die Gesellschaft wohlmeinender Menschen bringen. Menschen, die nicht ihre Behinderung sehen, sondern ihre Fähigkeiten.“
„Ah, du meinst also im Sportverein könnte sie ihren Rolli vergessen?“
„Wenn alle im Rolli Sport betreiben,“ kontert Maik, „fällt das nicht mehr auf. Außerdem gewinnt Andrea an Selbstbewusstsein. Sie erkennt, was sie imstande ist zu schaffen!“
„Erkläre das genauer!“ fordert Papa Maik auf.
„In einem halben Jahr findet ein Benefiz-Turnier im Ort statt. Behinderte Sportler spielen gegen Nichtbehinderte Handball. Andrea hat sich das Training der Behindertensport-Gruppe schon angeschaut und durfte ein paar Minuten mitmachen. Ich spürte, dass ihr das gut getan hat.“
Papas Gesicht zeigt Unverständnis.
„Behinderte spielen gegen Nichtbehinderte Handball…“
„Ja, die Nichtbehinderten sitzen ebenfalls auf Rollstühlen. Chancengleichheit ist also gegeben. In der Damenmannschaft könnten sie noch jemanden gebrauchen…“
Ich schaue zu Papa auf.
„Bitte, Papaaa…“