Samstag, 18. Juli 2020
Luna -30-
Dann richtet sich Maik auf und wirft den Knochen ein paar Meter weg. Ich schaue dem fliegenden Knochen hinterher und höre, wie Maik „HOL!“ ruft. Ich mache erst ein paar Schritte auf allen Vieren in die Richtung, in der das Spielzeug liegen muss. Dann richte ich mich auf, laufe auf meinen Hinterbeinen dorthin. Beim Knochen angekommen, bücke ich mich danach, nehme ihn mit der Hand auf und falle auf die Nase.
Sofort ist Maik bei mir. Er hebt mich an und dreht mich um. Dabei stützt er meinen Rücken mit seinem Knie.
„Alles in Ordnung, Liebes?“ fragt er mit besorgter Stimme und gekräuselter Stirn. Er reibt mir sanft mit einem Papiertuch durch’s Gesicht und meint: „Apportieren über weite Distanzen ist nichts für Luna! Dein Handicap verbietet das schnelle Gehen auf zwei Beinen!“
Er nimmt mich auf und trägt mich auf das Strandtuch zurück. Dort setzt er mich vorsichtig ab und befühlt meine Arme und Beine.
„Tut dir auch wirklich nichts weh?“
Ich schüttele den Kopf. Maik holt tief Luft und stößt sie hörbar aus.
„Ich glaube, wir brechen hier ab und machen morgen etwas anderes,“ sagt er nun.
Ich schaue traurig zu ihm auf.
„Warum?“
„Keine Sorge, Andrea. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben! Aber ich brauche etwas Abstand. Wie hätte ich deinen Eltern unter die Augen treten können, wenn du in Gips aus dem Urlaub nachhause kommst?“
Inzwischen hat er sich neben mich auf das Strandtuch gesetzt. Ich umarme ihn und gebe ihm einen Kuss. Er lässt sich langsam zurücksinken und zieht mich damit hinterher. So komme ich auf ihn zu liegen. Wir liebkosen uns noch eine Weile.
Schließlich meint Maik:
„Es ist allmählich Zeit für den Rückweg.“
Er hilft mir in den Rolli und wir wandern langsam zum Abendessen bei Onkel Hans und Tante Katharina. Dann schauen wir oben in seinem Mansarde-Zimmerchen noch etwas Fernsehen und gehen danach schlafen.

*

Am nächsten Tag wandert Maik mit mir zur Bushaltestelle an der Hauptstraße. Als der Bus hält, hilft er mir beim Einsteigen und bezahlt die Tickets beim Fahrer.
„Wann sagst du mir denn, wo wir hinfahren?“ dränge ich ihn zum wiederholten Male, aus dem heutigen Ziel kein solches Geheimnis zu machen. Doch alles was ich bewirke ist ein freundliches Lächeln. Er legt seine Hand auf meine und bittet mich um Geduld.
„Schau dir doch die Landschaft draußen an,“ ist seine einzige Antwort.
Es geht durch mehrere Ortschaften. Dann steigen wir am Kirchplatz eines der Dörfer aus. Maik führt mich eine Straße entlang, weg vom Ortskern. Wir erreichen nach ein paar Minuten ein Restaurant und er führt mich am Gebäude vorbei zu einem Fluss, der diesseits ein befestigtes und gegenüber ein naturbelassenes Ufer hat, ganz so wie im Naturschutzgebiet in der Nähe unseres Heimatortes.
Maik geht mit mir zum Ufer hinunter, wo sich einige Kähne mit Menschen füllen. Es sind ganz flache hölzerne Wasserfahrzeuge mit Sitzbänken in Bodennähe. Maik fragt, ob wir mitfahren dürfen und bezahlt den Fahrpreis.
Dann muss ich aus dem Rolli aufstehen. Einer der Männer stellt ihn zwischen zwei Sitzbänke und zurrt ihn dort fest. Ich halte mich an Maik fest und nähere mich langsam dem Kahn. Dann hebt Maik mich an, trägt mich zu meinem Rolli und setzt mich hinein. Er selbst setzt sich neben mich auf die Sitzbank. Nun sitze ich um zwei Köpfe höher als er.
Die beiden Männer, die sich um die Fahrgäste gekümmert haben, stellen sich nun an den Bug und das Heck des Kahns. Als eine Frau am Ufer das Seil löst, mit dem der Kahn festgemacht war, beginnen die beiden Männer den Kahn im Stehen durch Rudern fortzubewegen. Der Kahn macht dabei eine ungewöhnlich schlängelnde Bewegung.
Ich spüre wie Maiks Hand nach meiner tastet und schaue zu ihm herab. Er lächelt mich aufmunternd an und meint:
„Fällt dir die schlängelnde Fortbewegungsart auf? Das Boot hat kein Steuerruder. Die Ruderer steuern durch die Ruder. Dadurch ergibt sich die eigentümliche Bewegung, die den Booten ihren Namen gegeben hat: Natter. Die Boote sind so flach, damit sie sich hier in den Altrheinarmen überall hinbewegen können. Früher haben die Leute damit gefischt. Heute fahren sie Touristen durch eine weitgehend unberührte Natur.“
„Unberührt?“ hake ich nach.
Maik nickt und antwortet:
„Naja, sagen wir… renaturiert. Die Altrheinarme sind der Natur zurück gegeben worden. Heute liegen die Dörfer hier in einem Naturschutzgebiet. Die Menschen haben strenge Auflagen zu erfüllen.“
Wir lassen die Häuser des Dorfes hinter uns. Die Natur tritt an die Ufer. Bald habe ich das Gefühl, dass wir durch einen Urwald gerudert werden. Der Mann, der hinten rudert, beginnt bald mit seinen Erklärungen. Wir hören stumm seinen Ausführungen zu:
„Sie befinden sich hier in einem typischen Auenwald, der aussieht wie ein wildes Gewässer nach dem Hochwasser, ein Wald der sich scheinbar ungeplant und nicht von Menschen gesteuert verändert. Hier eine neu entstandene Kiesbank, dort ein umgerissener Baum... Solche auentypischen Veränderungen oder gar ‘Wildnis‘ lösen bei vielen Menschen tiefsitzende Ängste aus. Das Naturverständnis vieler Menschen ist leider geprägt von sauber gepflegten Stadtparks. Das aber ist keine echte Natur.
Hier dagegen finden viele Tiere Möglichkeiten für die Aufzucht ihres Nachwuchses, wozu auch eine intakte Nahrungskette gehört. Hier findet man noch Wildkatzen, Eisvogel, Pirol, Graureiher und Kormoran, den Grasfrosch und die Gelbbauchunke, die Ringelnatter, sowie die Prachtlibelle, um nur einige wenige Arten zu benennen. Das Kennzeichen der Auenwälder ist der hohe Totholzanteil, der die Lebensgrundlage für eine artenreiche Pflanzenwelt ist.“
Wir lauschen etwa zwei Stunden den Ausführungen des Mannes. Immer wieder zeigt er uns verschiedene Pflanzen und Tiere. Dann sind wir wieder an der Anlegestelle zurück. Nachdem ich glücklich wieder auf festem Boden bin, schlägt Maik vor, dass wir im Restaurant zu Abend essen. Nach dem Essen ruft er über Handy Onkel Hans an, der uns abholt und nachhause zurückbringt, denn um diese Zeit fährt kein Bus mehr in Richtung des Hofes.



Luna -29-
„Siehst du, die Bremse wirkt,“ meint er nur. „Im BEI FUSS sollst du so neben mir her gehen, dass dein Kopf auf Höhe meiner Oberschenkel bleibt – nicht zurückbleiben, und nicht vorlaufen.“
Wir umrunden den Stamm der Weide einmal. Dann sagt er „LINKS“ und tauscht Leine und Walking-Stick in seinen Händen. Dabei zerrt er mich sanft auf seine andere Seite.
„Wenn wir jemandem begegnen würden, der ebenfalls eine Doggie an der Leine führt – auf einen Event eher -, dann bleiben die Doggies immer außen!“ erklärt er mir, während wir eine weitere Runde um den Baum machen.
Nach einigen Metern sagt er „RECHTS“, und ich wechsele wieder die Seite. Auch Maik nimmt die Leine und den Walking-Stick wieder in die anderen Hände.
Nachdem wir drei weitere Runden gegangen sind, bleibt er mit mir am Strandtuch stehen. Er legt den Walking-Stick ab und nimmt einen quietsch-gelben Tennisball aus der Tasche im Rückenteil meines Rollis. Erst hält er mir den Ball vor die Nase, dann lässt er ihn auf das Strandtuch rollen und lächelt mir zu.
Ich springe zum Ball und versuche seinen Lauf zu stoppen und ihn in Maiks Richtung zu stoßen. Maik tritt hinzu, doch mich reitet der Schalk. Ich stoppe den Ball und gebe ihm einen Stoß in die entgegengesetzte Richtung, dann wieder zurück. Mit einem schnellen Seitenblick auf Maik versuche ich an seiner Mimik festzustellen, was er denkt. Er scheint mich gewähren zu lassen.
Dadurch verliere ich bald das Interesse am Ballspiel und lasse ihn in einer der Vertiefungen in der Wiese liegen. Stattdessen dränge ich mich an Maik heran, der es sich auf dem Strandtuch gemütlich gemacht hat. Er beginnt mich zu streicheln, also lasse ich mich neben ihn nieder.
Schließlich schaut er auf die Uhr und sagt:
„Wir sollten packen!“
Wir gehen vom Strandtuch herunter. Maik faltet es zusammen und legt es wieder auf die Sitzfläche des Rollis. Ich bin an den Rolli heran gekrabbelt und ziehe mich an ihm hoch. Nachdem ich mich gedreht und gesetzt habe, hat er auch die anderen Sachen in der Tasche verstaut und schiebt mich auf den Weg zurück. Eine halbe Stunde später sitzen wir zusammen beim Abendessen. Dann schauen wir mit seinen Verwandten noch etwas Fernsehen, bevor er mit mir im Rolli wieder die Treppe erklimmt.
Vor dem Schlafengehen legt er das zusammen gefaltete Standtuch in eine Ecke meines Zimmerchens und wirft ein Gummibärchen darauf, das er mir kurz zuvor vor die Nase gehalten hat. Ich schaue dem Gummibärchen hinterher und dann wieder zu ihm auf.
„Heute Abend keinen Hunger mehr auf eine kleine Süßigkeit, ein Betthupferl?“ fragt er mich lächelnd. „Sonst hole es dir.“
Er wirft ein zweites Gummibärchen auf das Strandtuch. Ich zucke kurz mit den Schultern und gehe auf allen Vieren zum Strandtuch. Um das zweite Gummibärchen zu erreichen, das gegen die Wand geprallt und dann hinten auf dem Strandtuch hingefallen ist, muss ich ganz auf das Strandtuch klettern.
Maik ist nähergekommen, bestimmt um zu schauen, wie ich die Gummibärchen aufnehme. Also beuge ich mich zu den Süßigkeiten hinunter und nehme sie mit den Lippen auf. Jetzt sagt Maik „DECKE!“ und streicht mir zärtlich über das Haar. Ich reibe meine Wange sanft an seinem Knie.
„Siehst du,“ sagt Maik. „So schicke ich dich als Doggie auf deine Decke, Kissen oder Körbchen, je nachdem was gerade da ist. Dann kannst du in einer stillen Ecke eine Weile zur Ruhe kommen.“

*

So wie gestern machen wir es jetzt immer. Maik hat mit seinem Onkel vereinbart, dass er vormittags im Betrieb mithilft und nach der Mittagspause bis zum Abendessen ‘mit mir die Umgebung erkundet‘. Am Ende der zwei Wochen wird Onkel Hans das Berichtsheft unterschreiben und damit das ‘Seminar‘ beurkunden, obwohl es nur halbtags verläuft.
Heute ist unser Ziel natürlich wieder die Weide am Ufer des Feuerteiches. Unter den herunterhängenden Weidenruten sind wir vor neugierigen Blicken geschützt und können unser Rollenspiel ungestört durchführen. Nur selten kommt ein Wanderer vorbei. Dann verhalten wir uns kurze Zeit still.
Nachdem wir angekommen sind und Maik das Strandtuch auf der Wiese ausgebreitet hat, wiederholt er die Kommandos von Gestern und das Gehen bei Fuß. Heute lässt er mich sogar von der Leine, so dass ich auf allen Vieren frei neben ihm her gehen kann. Wieder bremst er mich ein paar Mal, als er denkt, ich wäre zu weit vorgelaufen. Es scheint ihm dabei zwar nicht um Zentimeter, aber um Handbreiten zu gehen.
Dann holt er mich zu sich auf das Strandtuch und übt die Kommandos PLATZ und ROLL. Es sind Erweiterungen des Kommandos SITZ. Dann sagt er „MÜDE!“, als ich durch das Kommando ROLL auf dem Strandtuch auf dem Rücken zu liegen komme. Ich drehe mich also zur Seite und blinzele zu ihm auf. Er hat sich inzwischen neben mir niedergelassen und beginnt mich nun eine Weile zu streicheln. Dann legt er sich auch zurück und schaut träumend zwischen den Weidenzweigen hoch in den Himmel, beziehungsweise das was man vom Himmel gerade so sieht. Ich rutsche auf ihn zu und kuschele mich an ihn.
Nach einer Weile wälzt sich Maik zur Seite nachdem er sich über mich gebeugt und mir einen Kuss gegeben hat. Er rappelt sich auf und nimmt den Gummiknochen aus der Tasche meines Rollis, den er in der Mittagspause ausgekocht hat. Maik zeigt mir das Spielzeug und wirft es mir zu. Es prallt an meiner Schulter ab und fällt auf das Strandtuch. Ich lege meine Hand darauf und schaue ihn fragend an.
Er lächelt und sagt: „BRING!“
Dabei nickt er aufmunternd mit dem Kopf. Ich beuge mich also zu dem Gummiknochen hinunter und nehme ihn mit dem Mund auf. Dann mache ich zwei Schritte auf Maik zu, der sich in der Zwischenzeit auch mir genähert hat. Er bückt sich etwas, hält mir seine Hand unter mein Kinn und sagt nun:
„AUS!“
Also lasse ich den Gummiknochen fallen, darauf vertrauend, dass er schon in seine Hand fällt. Und wirklich, Maik hat den Gummiknochen aufgefangen. Er streicht mir zart über meine Wange und meint:
„Gut gemacht, LUNA.“