Samstag, 4. Juli 2020
Luna -02-
Sie erklärt uns genau, was mit Andrea los ist und beschreibt wie eine Operation der Hüfte abläuft und dass sie die Hüfte später beim Aufrechtgehen entlastet. Würden wir es unbehandelt lassen, würde sich unsere Kleine einen Watschelgang angewöhnen, um die Schmerzen durch die Überdehnung der Sehnen erträglich zu halten. Ein Sehnenriss hätte ein Leben im Rollstuhl zur Folge.
Wenige Wochen danach haben wir den Termin für ein Beratungsgespräch in der Uni-Kinderklinik. Dort erklärt man uns, dass man jetzt noch nicht operieren kann. Wenn unser Mädchen etwa anderthalb bis zwei Jahre alt ist, kurz bevor sie zu laufen beginnt, wäre der optimale Zeitpunkt. Jetzt wären die Knochen noch zu weich. Trotzdem überlässt man uns nicht unserem Schicksal, sondern gibt uns einen Termin in sechs Monaten für die nächste Untersuchung in der Orthopädie der Kinderklinik.

*

Da sich Birgit früher für Anime interessiert hat, entscheidet sie sich für Anime-Characters aus Stoff als Knuddelfiguren für unser Mädchen. Ich lasse sie gewähren und nutze die Stoffpuppen bald auch im Spiel mit Andrea auf dem Teppich im Wohnzimmer. Ich freue mich über jedes Jauchzen der Kleinen und halte still, wenn sie mir auf Bauch und Brust krabbelt, um dann mit dem Ohr über meinem Herzen ein Nickerchen zu machen. Es macht mich glücklich, wie innig unser Verhältnis zueinander ist.
Seit Andreas Geburt werde ich von unserem Personalsachbearbeiter als „Springer“ eingesetzt. Das heißt, wo überall auf den Schiffen der Reederei ein Mann ausfällt - wegen Urlaub oder Krankheit – muss ich hin und für den Mann einspringen. Das bedeuten Einsätze von ein bis drei Wochen und dazwischen Pausen von zwei bis fünf Tagen. Zum Einen bin ich dafür ständig mit dem Zug zu den Einsätzen unterwegs, zum Anderen bin ich länger am Stück bei meiner kleinen Familie.
Andrea ist fast anderthalb Jahre alt, als sich die Ärzte für die Operation entschließen. Wie man uns sagt, ist so der Eingriff vollständig verheilt bis sie beginnt zu laufen. Da wir uns auf den Rat der Fachleute verlassen stimmen wir dem Eingriff zu und bekommen einen Termin.
Drei Wochen danach bringen wir Andrea in die Orthopädische Kinderklinik der Universität unserer Stadt. Sie wird vorbereitet und bekommt dann ein Schlafmittel.
Als unsere Kleine eingeschlafen ist, müssen wir uns vorübergehend von ihr trennen. Wir gehen schweren Herzens in die Kantine des Krankenhauses, essen etwas und setzen uns mit einem Kaffee nebeneinander an den Tisch. Birgit lehnt sich bei mir an und ich lege meinen Arm um ihre Schultern.
„Manni,“ sagt sie leise und schaut zu mir auf. „Ob wir das richtige tun?“
„Bestimmt, Liebes,“ versuche ich sie zu beruhigen.
Nach einer Weile, in der wir stumm in uns hineingehorcht haben, ergänze ich:
„Auch die Ärzte sind nur Menschen! Wenn die OP nicht den gewünschten Erfolg hat, bleibt Andrea immer noch unser Mädchen, für das ich alles tun würde! Das Wohl unserer Kleinen kommt zuerst – erst dann meins…“
Birgit streckt sich etwas und drückt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Ich schaue sie an und sage:
„Du kommst ebenfalls in meiner Rangfolge vor mir selbst!“
Sie drückt mich und gibt mir einen Kuss auf meine Lippen.
„Das weiß ich, Manni,“ flüstert sie. „Ich bin aber gerade so unruhig… Magst du etwas durch den Park spazieren?“
„Aber klar!“ Ich schaue auf die Uhr. In drei Stunden sollen wir uns wieder melden.
Wir gehen also zum Hinterausgang und die vier Stufen hinunter in den Park der Klinik. Später schauen wir nach unserer Kleinen. Man erzählt uns, dass die Operation erfolgreich verlaufen ist. Andrea muss nun drei Wochen in der Klinik bleiben, damit der Heilungsprozess beobachtet werden kann. Die Krankenschwester lässt uns einen Blick auf unser friedlich schlafendes Mädchen werfen und fragt nach Besonderheiten, die sie in der Pflege beachten müssen.
„Sie mag keinen Spinat!“ bricht es unvermittelt aus Birgit heraus, die auffallend still geworden ist.
Wir lachen und ich nehme Birgit in den Arm. So verlassen wir die Klinik und fahren nachhause. Täglich sind wir zu den Besuchszeiten in der Klinik und sitzen bei Andrea am Kinderbettchen. Beim Verabschieden passiert es oft, dass Andrea mir ihre Ärmchen entgegenstreckt. Ich nehme also ihre Lieblingsstoffpuppe mit in unser Bett und bringe sie ihr nach ein paar Tagen, damit ihr der Abschied nicht zu schwer wird.
Dann kommt der Tag, an dem wir unsere Kleine mit nachhause nehmen dürfen. Beim Abschied erzählt uns die Oberschwester eine Anekdote:
„Eine der Schwesternschülerinnen wollte wohl wissen, ob Andrea wirklich keinen Spinat mag. Sie hat sie mit Spinat gefüttert und ihre Kleine spuckt sie plötzlich mit dem Spinat an, den sie im Mund gesammelt haben muss. Sie kommt zu mir – über und über grün gesprenkelt…“
Ich nicke lächelnd mit dem Kopf und auch Birgit lacht befreit auf.

*

In den folgenden Monaten warten wir sehnsüchtig darauf, dass Andrea sich irgendwo hochzieht und den ersten Schritt macht. Wir werden auf eine lange Probe gestellt. Sicher, es kommt immer wieder vor, dass unsere Kleine sich am Wohnzimmerschrank hochzieht und eine Sekunde abgestützt steht.
Schließlich locke ich sie mit ihrer Lieblingsstoffpuppe vom Schrank weg.
„Andrea, Maus, schau mal hier! Hol es dir!“
‚Etwa einen Meter sollte sie bald schaffen können,‘ denke ich.
Freudestrahlend lässt unser Mädchen den Schrank los, macht einen Schritt und geht wieder auf die Knie, um auf allen Vieren zu mir zu kommen.
‚Das dauert sicher noch etwas,‘ versuche ich mich zu beruhigen und gebe Andrea ihre Puppe.



Luna -01-
„Manni, ich glaub‘, ich bin schwanger.“
Als Birgit vor dem Einschlafen wie beiläufig den Satz fallen lässt, bin ich mit einem Mal hellwach. Ich drehe mich zu ihr und sehe, wie sie liebevoll auf mich herabblickt. Einige Jahre haben wir es nun schon probiert. Nie wollte es gelingen. Schließlich haben wir es aufgegeben und uns gesagt, wenn es passiert, dann passiert es eben; wenn nicht dann nicht. Und nun das!
Ich hebe meine Arme ihr entgegen, umfasse zärtlich ihre Schultern und ziehe sie zu mir herab, um ihr einen Kuß zu geben. Das erste, das meine Lippen erreichen, ist ihre Nasenspitze. Dann legen sich meine geöffneten Lippen auf ihre und meine Zungenspitze tastet nach ihrer.

*

Die Untersuchung bei Birgits Frauenärztin bestätigt ihren Verdacht. Ich bin so glücklich. Schlimm empfinde ich in unserer Situation, dass meine berufliche Tätigkeit mir nur erlaubt alle drei Wochen für ein Wochenende zuhause zu sein.
Neun Monate nachdem mich Birgit informiert hat, dass unser größter Wunsch in Erfüllung gegangen ist und ihr Bauch beängstigende Maße angenommen hat, werde ich mitten in der Nacht wach. Bis der Wecker klingelt und ich wieder zur Arbeit muss, vergehen noch vier Stunden. Entsprechend benommen drehe ich mich zu Birgit um, die mich an der Schulter rüttelt.
„Manni, bitte! Manni, bitte wach auf! Wach auf! Ich glaube es kommt…“
Mit einem Sprung bin ich aus dem Bett. An den Schrank gelehnt, versuche ich Sekundenlang mein Gleichgewicht zu finden und die Benommenheit loszuwerden. Schnell bin ich im Bad und habe mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht geworfen. Zurück im Schlafzimmer sehe ich Birgit schwer atmend auf der Bettkante sitzen.
Ich ziehe mir schnell Hemd und Hose über den Schlafanzug an und schlüpfe in meine Sandalen, dann helfe ich Birgit in ihren Mantel und Schuhe. Auf mich gestützt geht sie mit verkniffenem Gesicht ins Bad. Dort lasse ich sie auf dem WC hinsetzen und gebe ihr einen feuchten Waschlappen für die notdürftigste Hygiene. Währenddessen verstaue ich ihre Zahnbürste und –creme im Notfallkoffer. Dann geht es langsam zum Auto.
Sobald wir auf der Straße sind beeile ich mich, den Weg zur städtischen Klinik möglichst schonend zurück zu legen. Adrenalin strömt durch meine Adern und lässt mich an jeder roten Ampel schier verzweifeln. Schließlich haben wir es doch noch geschafft. Etwas über eine Stunde nachdem mich Birgit geweckt hat, sind wir in der Aufnahme. Eine erste Untersuchung erfolgt. Der Arzt meint:
„Der Muttermund ist schon etwas offen. Gehen sie mit ihrer Frau noch etwas durch die Gänge.“
Ich seufze, aber beuge mich seinem Rat. Wir beginnen eine langsame Wanderung durch die Klinikgänge. Zwischendurch ruht sich Birgit an den wandhohen Fenstern an den Enden der Gänge aus. Ein paar Minuten schauen wir den Vögeln auf der Wiese vor den Fenstern zu, dann gehen wir zurück und biegen in einen anderen Gang ein. Im stündlichen Abstand untersucht der Arzt Birgit und bis nach Mittag schickt er uns immer wieder auf Wanderschaft.
Am Morgen zu Arbeitsbeginn habe ich auf meiner Arbeitsstelle angerufen und geschildert, dass ich heute nicht zur Arbeit kommen kann. Dort beruhigt man mich und sagt, ich solle mich jetzt erst einmal um uns kümmern.
Gegen 14 Uhr entscheidet der untersuchende Arzt die Geburt einzuleiten. Eine Krankenschwester führt uns in einen Raum und hilft Birgit gemeinsam mit mir, sich auf einer Liege nieder zu lassen. Dann richtet sie den Blick auf mich und sagt:
„Herr Weiler, Sie sollten draußen warten!“
Hm, okay. Ich drücke Birgits Hand und beuge mich zu ihr herunter, um ihr einen Kuss zu geben. Dann versuche ich aufmunternd zu klingen:
„Liebling, ich bleibe draußen an der Tür. Du bist ja in guten Händen. Ich erwarte euch beide bald zu sehen…“
Dann schließt sich die Tür des Vorraums hinter mir.
Für meine Begriffe hat es eine Ewigkeit gedauert, als sich die Tür wieder öffnet. Ich habe mir von einem der Gang-Enden einen Stuhl hierher gebracht. Der Kopf der Krankenschwester kommt hervor und schaut auf mich herab.
„Herr Weiler, Sie dürfen jetzt zu ihrer Frau,“ sagt sie und macht den Weg frei.
Man hat Birgit auf der Liege wieder in den Vorraum geschoben. In ihren Armen hält sie ein Bündel aus einer Frottee-Decke, aus der mich ein kleines Gesicht neugierig anschaut. Mir verschlägt es die Sprache. Ich streichele vorsichtig über die kleine Wange. Eine kleine Hand kommt aus der Decke hervor, umschließt meinen Zeigefinger und führt ihn sich in den Mund. Die Kleine schließt die Augen und beginnt am Finger zu saugen. Ich beuge mich zu Birgit herunter, der man die Erschöpfung deutlich ansieht und küsse ihre Stirn.
Wir werden von der Krankenschwester gestört.
„So, Herr Weiler. Haben Sie sich schon einen Namen für ihre Tochter überlegt?“
„Wir haben uns für Andrea entschieden,“ antworte ich ihr.
Sie sucht einige Buchstabenwürfel aus einer Plastikschale zusammen und fädelt sie auf. Dann erhält unsere Kleine ein Armbändchen mit ihrem Namen. Dann meint die Krankenschwester:
„Wir wollen ihre Frau auf die Wöchnerinnen-Station bringen…“
Ich trete also einen Schritt zurück und mache den Weg frei. Sie schiebt Birgit auf den Gang und durch eine Tür in einen anderen Bereich. Dort auf einem Zimmer gibt sie mir meine Kleine auf den Arm und hilft Birgit in ein freies Bett. Danach bettet sie unsere Kleine in ein Babybettchen und verlässt uns mit der Liege.
Allmählich lässt die Spannung bei mir nach und ich spüre eine große Müdigkeit. Draußen beginnt schon der Abend zu dämmern als ich nachhause fahre, ins Bett falle und wenig später eingeschlafen bin.

*

Inzwischen ist es Sommer geworden und Birgit mit unserer Kleinen zuhause. Ich habe mir eine Känguru-Tragetasche gekauft und trage unsere Kleine bei Spaziergängen darin in der Nähe meines Herzens. Wir halten strikt die Untersuchungstermine ein. Die Urlaubsvertretung unserer Kinderärztin wendet sich an uns mit umwölkter Stirn.
„Ich verstehe nicht, warum das der Frau Doktor nicht schon aufgefallen ist. Ihre Tochter hat Hüftluxation zweiten Grades. Sie sollten sich umgehend um eine Einweisung in eine Kinderklinik bemühen! – Keine Angst, in diesem Alter behandelt, ist ihrer Tochter später nichts mehr anzumerken. Unbehandelt droht ihr ein Leben im Rollstuhl.“