Luna -02-
Sie erklärt uns genau, was mit Andrea los ist und beschreibt wie eine Operation der Hüfte abläuft und dass sie die Hüfte später beim Aufrechtgehen entlastet. Würden wir es unbehandelt lassen, würde sich unsere Kleine einen Watschelgang angewöhnen, um die Schmerzen durch die Überdehnung der Sehnen erträglich zu halten. Ein Sehnenriss hätte ein Leben im Rollstuhl zur Folge.
Wenige Wochen danach haben wir den Termin für ein Beratungsgespräch in der Uni-Kinderklinik. Dort erklärt man uns, dass man jetzt noch nicht operieren kann. Wenn unser Mädchen etwa anderthalb bis zwei Jahre alt ist, kurz bevor sie zu laufen beginnt, wäre der optimale Zeitpunkt. Jetzt wären die Knochen noch zu weich. Trotzdem überlässt man uns nicht unserem Schicksal, sondern gibt uns einen Termin in sechs Monaten für die nächste Untersuchung in der Orthopädie der Kinderklinik.

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Da sich Birgit früher für Anime interessiert hat, entscheidet sie sich für Anime-Characters aus Stoff als Knuddelfiguren für unser Mädchen. Ich lasse sie gewähren und nutze die Stoffpuppen bald auch im Spiel mit Andrea auf dem Teppich im Wohnzimmer. Ich freue mich über jedes Jauchzen der Kleinen und halte still, wenn sie mir auf Bauch und Brust krabbelt, um dann mit dem Ohr über meinem Herzen ein Nickerchen zu machen. Es macht mich glücklich, wie innig unser Verhältnis zueinander ist.
Seit Andreas Geburt werde ich von unserem Personalsachbearbeiter als „Springer“ eingesetzt. Das heißt, wo überall auf den Schiffen der Reederei ein Mann ausfällt - wegen Urlaub oder Krankheit – muss ich hin und für den Mann einspringen. Das bedeuten Einsätze von ein bis drei Wochen und dazwischen Pausen von zwei bis fünf Tagen. Zum Einen bin ich dafür ständig mit dem Zug zu den Einsätzen unterwegs, zum Anderen bin ich länger am Stück bei meiner kleinen Familie.
Andrea ist fast anderthalb Jahre alt, als sich die Ärzte für die Operation entschließen. Wie man uns sagt, ist so der Eingriff vollständig verheilt bis sie beginnt zu laufen. Da wir uns auf den Rat der Fachleute verlassen stimmen wir dem Eingriff zu und bekommen einen Termin.
Drei Wochen danach bringen wir Andrea in die Orthopädische Kinderklinik der Universität unserer Stadt. Sie wird vorbereitet und bekommt dann ein Schlafmittel.
Als unsere Kleine eingeschlafen ist, müssen wir uns vorübergehend von ihr trennen. Wir gehen schweren Herzens in die Kantine des Krankenhauses, essen etwas und setzen uns mit einem Kaffee nebeneinander an den Tisch. Birgit lehnt sich bei mir an und ich lege meinen Arm um ihre Schultern.
„Manni,“ sagt sie leise und schaut zu mir auf. „Ob wir das richtige tun?“
„Bestimmt, Liebes,“ versuche ich sie zu beruhigen.
Nach einer Weile, in der wir stumm in uns hineingehorcht haben, ergänze ich:
„Auch die Ärzte sind nur Menschen! Wenn die OP nicht den gewünschten Erfolg hat, bleibt Andrea immer noch unser Mädchen, für das ich alles tun würde! Das Wohl unserer Kleinen kommt zuerst – erst dann meins…“
Birgit streckt sich etwas und drückt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Ich schaue sie an und sage:
„Du kommst ebenfalls in meiner Rangfolge vor mir selbst!“
Sie drückt mich und gibt mir einen Kuss auf meine Lippen.
„Das weiß ich, Manni,“ flüstert sie. „Ich bin aber gerade so unruhig… Magst du etwas durch den Park spazieren?“
„Aber klar!“ Ich schaue auf die Uhr. In drei Stunden sollen wir uns wieder melden.
Wir gehen also zum Hinterausgang und die vier Stufen hinunter in den Park der Klinik. Später schauen wir nach unserer Kleinen. Man erzählt uns, dass die Operation erfolgreich verlaufen ist. Andrea muss nun drei Wochen in der Klinik bleiben, damit der Heilungsprozess beobachtet werden kann. Die Krankenschwester lässt uns einen Blick auf unser friedlich schlafendes Mädchen werfen und fragt nach Besonderheiten, die sie in der Pflege beachten müssen.
„Sie mag keinen Spinat!“ bricht es unvermittelt aus Birgit heraus, die auffallend still geworden ist.
Wir lachen und ich nehme Birgit in den Arm. So verlassen wir die Klinik und fahren nachhause. Täglich sind wir zu den Besuchszeiten in der Klinik und sitzen bei Andrea am Kinderbettchen. Beim Verabschieden passiert es oft, dass Andrea mir ihre Ärmchen entgegenstreckt. Ich nehme also ihre Lieblingsstoffpuppe mit in unser Bett und bringe sie ihr nach ein paar Tagen, damit ihr der Abschied nicht zu schwer wird.
Dann kommt der Tag, an dem wir unsere Kleine mit nachhause nehmen dürfen. Beim Abschied erzählt uns die Oberschwester eine Anekdote:
„Eine der Schwesternschülerinnen wollte wohl wissen, ob Andrea wirklich keinen Spinat mag. Sie hat sie mit Spinat gefüttert und ihre Kleine spuckt sie plötzlich mit dem Spinat an, den sie im Mund gesammelt haben muss. Sie kommt zu mir – über und über grün gesprenkelt…“
Ich nicke lächelnd mit dem Kopf und auch Birgit lacht befreit auf.

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In den folgenden Monaten warten wir sehnsüchtig darauf, dass Andrea sich irgendwo hochzieht und den ersten Schritt macht. Wir werden auf eine lange Probe gestellt. Sicher, es kommt immer wieder vor, dass unsere Kleine sich am Wohnzimmerschrank hochzieht und eine Sekunde abgestützt steht.
Schließlich locke ich sie mit ihrer Lieblingsstoffpuppe vom Schrank weg.
„Andrea, Maus, schau mal hier! Hol es dir!“
‚Etwa einen Meter sollte sie bald schaffen können,‘ denke ich.
Freudestrahlend lässt unser Mädchen den Schrank los, macht einen Schritt und geht wieder auf die Knie, um auf allen Vieren zu mir zu kommen.
‚Das dauert sicher noch etwas,‘ versuche ich mich zu beruhigen und gebe Andrea ihre Puppe.