Sonntag, 5. Juli 2020
Luna -04-
Als sie sich wieder einmal mit einem Jungen verabredet hat, wird Beauty nach einigen Minuten unruhig und kratzt an der Tür. Ich leine sie an und will mit ihr Gassi gehen. Draußen zieht sie an der Leine bis ihr Kopf aus dem Halsband rutscht. Unter Bellen rennt sie in Richtung der kleinen Grünanlage in der Nähe von unserer Wohnung.
Ich halte mich nicht lange mit Abrufen auf, sondern hetze hinter Beauty her. Als ich durch das offene schmiedeeiserne Tor in der Einfassungsmauer laufe, kommen mir drei halbwüchsige Kerle blindlings entgegen. Einer reißt mich fast um. Beauty höre ich in einem Gebüsch an der Innenseite der Mauer bellen. Mich dorthin wendend fällt mir als erstes Andreas Rollstuhl auf, der umgestürzt und leer vor einem Gebüsch liegt.
Bevor die jungen Männer die Grünanlage fluchtartig verlassen haben, hat Beauty‘s Bellen einen gefährlichen Unterton gehabt, den ich noch nie von ihr gehört habe. Ich kann es nur als Raubtierknurren beschreiben. Jetzt wird ihr Bellen von winselnden Zwischentönen begleitet. Ich dränge mich zwischen zwei Büschen hindurch und finde dort Andrea auf dem Boden sitzend. Sie zieht mit beiden Händen ihr T-Shirt zwischen den Beinen lang. Ihre Hose sitzt auf Höhe ihrer Oberschenkel. Beauty steht vor ihr und leckt ihr über das Gesicht, wenn sie den winselnden Ton hören lässt.
Während Andrea nicht aufschaut, trifft mich ein ganz besonderer Blick aus Beauty’s Augen. Ich beuge mich zu meiner Kleinen hinunter und nehme sie in meine Arme. Mit dem Fuß versuche ich den Rollstuhl aufzurichten. Was mir bei den ersten Modellen schonmal gelungen ist, klappt nun nicht. Also gehe ich in die Hocke. Andrea hat ihre Arme inzwischen um meinen Hals gelegt, so habe ich die Hände frei, um den Rollstuhl hinzustellen.
Dann ziehe ich ihren Slip und die Hose wieder hoch und setze sie in den Stuhl. Beauty hat inzwischen Ruhe gegeben.
„Haben sie…?“ frage ich.
Andrea schüttelt stumm den Kopf und streichelt Beauty.
„Aber einen Denkzettel sollten sie bekommen!“ sage ich bestimmt. „Kanntest du sie?“
Andrea nickt und beginnt zu schluchzen.
„Komm, wir gehen nachhause. Wenn du dich in der Lage fühlst, erzähle mir den Hergang, vielleicht auch die Vorgeschichte, falls es eine gibt,“ sage ich mit sanfter Stimme und schiebe den Rollstuhl durch das Tor der Grünanlage.
Zuhause erzählt sie mir am Abend, dass sie sich mit einem der Drei verabredet gehabt hat. Sie haben nebeneinander spazierend geredet und sie hat sich nichts dabei gedacht, dass der junge Mann in die Grünanlage abgebogen ist, weil sie zur Parallelstraße hin einen weiteren Eingang hat. Dann stehen plötzlich seine beiden Kumpels bei ihnen und sie verlangen Sex von ihr, was sie empört ablehnt. Sie haben sie in das Gebüsch gezerrt und angefasst. Und dann war auch schon Beauty da und die Kerle sind geflohen.
Ich habe die Erzählung über das Handy in meiner Hemdtasche aufgenommen und gehe ein paar Tage später, als ich arbeitsfrei bekommen habe, damit in die Schule. In der großen Pause lässt mich die Schulsekretärin zum Direktor durch, dem ich die Datei vorspiele.
„Ich sehe von einer Anzeige ab, weil ich meiner Tochter das nochmalige Durchleben der schlimmen Minuten nicht zumuten will. Achten Sie auf diese Drei!“ sage ich, nachdem die Tondatei zu Ende ist.
Der Mann schaut mich mit steilen Stirnfalten an.
„Was wollen Sie denn dann tun?“ fragt er.
„Ich werde meine Tochter über kurz oder lang von dieser Schule nehmen…“ gebe ich ihm meine Entscheidung bekannt.
„Okay, ich verstehe sie…“
„Ich weiß natürlich, dass es nicht am Lehrerkollegium liegt. Gleiches kann überall geschehen. Berücksichtigen sie den Vorfall einfach in der schulischen Erziehung. Sensibilisieren Sie die Schüler! Machen Sie klar, dass solches von der Gesellschaft nicht geduldet wird.
Damit dann meine Tochter aus der Schusslinie ist, muss sie natürlich irgendwo anders ihre Schule beenden…“
„Okay – und vielen Dank, dass Sie den Vorfall nicht an die große Glocke hängen!“
Der Direktor verabschiedet mich mit Handschlag.

*

Nach dem Vorfall habe ich uns eine Wohnung in einer Kleinstadt in der Nähe unserer bisherigen Heimatstadt angemietet und Andrea geht in die dortige Schule. Anfangs hat sie auch hier ihre Schwierigkeiten. Auch hier ist sie wieder die Außenseiterin. Als dann zwei Schüler sie offen niedermachen in der Pause mischt sich ein junger Mann aus der Abschlussklasse ein. Die Beiden ziehen sich zurück, denn die Pausenaufsicht ist auch schon zur Stelle.
Der junge Mann stellt sich mir kurz nach dem Vorfall als Maik vor und erzählt mir davon.
„Ich möchte Sie gerne zu einem Turnier einladen, dass der örtliche Behindertensportverein veranstaltet,“ sagt er einmal, nachdem er uns mehrfach besucht und mit Andrea in ihrem Zimmer Musik gehört hat.
Ich schaue zu Andrea hinüber, der ein feines Lächeln um die Mundwinkel spielt. Also stimme ich zu.
„Gern, aber sag‘ mal, Maik: Was geht da ab?“
„Nun, zwei Mannschaften – eine Behindertenmannschaft spielen gegen Nichtbehinderte Handball…“
„Wie das?“
Mein Gesicht zeigt Unverständnis.
„Die Nichtbehinderten sitzen ebenfalls auf Rollstühlen. Chancengleichheit ist also gegeben. In der Damenmannschaft können sie sicher noch jemanden gebrauchen…“
„Du meinst – Andrea…“
Ich schaue mit großen Augen Andrea an, die nun zu mir aufschaut.
„Bitte, Papaaa…“
„Vor so einem Turnier muss trainiert werden. Wann und wo…“
„Jeden Dienstagnachmittag in der Turnhalle!“ fällt mir Andrea ins Wort.
„Und wer…“ hake ich nach.



Luna -03-
Sie setzt sich auf und knuddelt ihre Puppe. Ich nehme beide auf meinen Schoß und wiege sie, während ich sie lobe und ihr durchs Haar und über die Wange streich.
In diese Zeit fällt es, dass Birgit mir in den Ohren liegt mit dem Wunsch nach einem Hund. Wir informieren uns und entscheiden uns für einen Border-Collie, weil diese Rasse sehr sozial eingestellt und nebenbei sehr intelligent ist. Über Bekannte finden wir einen Züchter und schauen ihn uns an. Eine seiner Hündinnen ist schwanger. Wir lassen uns vormerken und fahren wieder dorthin, als der Wurf drei Wochen alt ist.
Eine der tapsigen Welpen, ein Weibchen, hat es Birgit angetan. Nachdem das kleine Fellknäuel entwöhnt ist holen wir es zu uns. Es ist inzwischen über zwei Monate alt.
Auch hat sich beruflich bei mir einiges getan. Der Personalsachbearbeiter hat mir einen Einsatz gegeben, bei dem ich dauerhaft zuhause übernachten kann. Das Schiff fährt an sechs Tagen in der Woche morgens von unserer Stadt ab und ist abends spät wieder zurück. Montags bleibt es liegen. An diesem Tag wird es von uns gereinigt und überholt, so dass ich schon nachmittags zuhause sein kann.
In der Folgezeit kann ich beobachten, dass Andrea und ‚Beauty‘, wie wir den Familien-Neuzuwachs genannt haben, eng zusammenhängen. Beauty findet alles interessant, was Andrea macht, und umgekehrt ist es genauso.
Ein Punkt stört mich allerdings: Ich habe den Eindruck, dass Andrea keine Fortschritte mehr machen will beim Laufen lernen. Langsam wächst sie aber aus dem Sportwagen heraus. Einen Rollstuhl möchte ich nicht kaufen müssen. Auf Anraten eines Orthopäden besorge ich einen Hängesitz auf einem Laufband, mit dem wir nun mit viel Geduld und Lob regelmäßig trainieren.
Endlich schafft Andrea die ersten Schritte und kurze Strecken in der Wohnung auf zwei Beinen. Es sieht etwas komisch aus, aber darüber sehe ich hinweg. Der Arzt in der orthopädischen Praxis macht jedoch ein sorgenvolles Gesicht, als er sich ihr Können vorführen lässt.
„Das ist typisch für Kinder mit Hüftluxation,“ sagt er. „Ihre Tochter wird nie richtig gehen können. Um längere Strecken selbständig bewältigen zu können, sollten Sie sich mit einem Rollstuhl für sie anfreunden! Es gibt da besonders schöne Modelle, für die sich besonders Kinder gerne begeistern.“
Ich bin enttäuscht, aber für meine Kleine will ich alles tun. Dazu gehört, dass ich jetzt nicht zeige, wie es in mir aussieht. In wenigen Monaten kommt sie in den Kindergarten und bis dahin soll sie einen ‚Sportwagen‘ in Pink bekommen. Wir schauen uns verschiedene an und entscheiden uns eine Woche nach dem Arzttermin für ein Modell. Zuhause lasse ich sie weiter krabbeln. Wenn wir Ausflüge machen, setze ich sie in ihren Stuhl und schiebe sie damit durch Parks und Einkaufszentren.
Auf den Spielplätzen lasse ich sie selbst fahren, nachdem ich ihr gezeigt habe wie das geht und ihr dafür Fahrradhandschuhe angezogen habe. Die Kinder auf den Spielplätzen akzeptieren Andrea schnell und helfen ihr auch schonmal, wenn sie sich im Sand festgefahren hat.
Als ich das zum ersten Mal gesehen habe, ist mir das Herz in die Hose gerutscht. Ich bin aufgesprungen und zu ihr hingelaufen. Bei ihr angekommen ist sie aber schon wieder auf sicherem Grund gewesen. Ich habe mich bei den Kindern bedankt und sie zu einem Eis eingeladen. Und nachdem einige Eltern zustimmend genickt haben, habe ich zwei Hände voll Eistüten gekauft mit je einem Bällchen.
Nach diesem Erlebnis kaufe ich Andrea einen Fahrradhelm, denn ich kann nicht immer in ihrer Nähe sein und sie beschützen. Dann kommt sie in den Kindergarten. Die Gruppenleiterin integriert sie erfolgreich in die Spielgruppe. Unsere Kleine geht gerne dorthin. Jedoch spielen die Kinder an den Nachmittagen unter sich. Niemand ihrer Spielkameraden aus dem Kindergarten kommt auf die Idee, Andrea außerhalb der Spielstunden im Kindergarten zum Spielen einzuladen. Dafür ist Beauty ihr bester Spielkamerad zuhause.
Zwei Jahre später wird unser Sonnenschein zusammen mit den anderen Kindern ihrer Altersgruppe eingeschult. Die Kinder werden mit den Abgängen anderer Kindergärten gemischt und müssen sich nun neu zurechtfinden.
In ihrer Klasse sind ein paar Hyperaktive, das genaue Gegenteil unserer hochsensiblen Kleinen. Diese Gruppe stresst Andrea derart, dass sie bald nur noch unter Tränen in die Schule geht. Sie braucht viel Zuwendung und nach den Hausaufgaben entspannt sie sich beim Ballspiel mit Beauty.
Unsere Hündin weicht kaum von Andreas Seite und schläft auch in ihrem Zimmer auf ihrem Hundebettchen. An den Wochenenden spazieren wir oft gemeinsam durch den Stadtpark und jagen beide hinter dem mitgenommenen Plastik-Ei her, dass ich werfen muss. Damit Andrea den Ball erreicht, nimmt sie einen zusammen geschobenen Walking-Stick. Stürzt sie um, weil ein Rad ihres Rollstuhls von einem Maulwurfshügel gebremst wird oder in den Eingang einer Nagerhöhle geraten ist, krabbelt sie zu dem Stick, zieht sich daran hoch und richtet mit der freien Hand den superleichten Rollstuhl wieder auf. Die Bänder, die sie im Sitz halten, werden mit Klettband geschlossen und sind so mit einem Ruck wieder offen.
Mehr als einmal sind Passanten hinzu gelaufen, um ihr wieder auf zu helfen. Wir lassen es geschehen und bedanken uns jedesmal höflich. Anfangs muss ich Beauty immer wieder abrufen, die sich schützend zwischen Andrea und die Leute stellt. Jedesmal muss ich dann den Leuten das ungewöhnliche Gespann erklären und dass Andrea nicht völlig hilflos ist.
In der weiterführenden Schule hat sie zum Glück niemanden in ihrer Klasse, die sie aufgrund ihrer Behinderung und ihres Wesens verspotten, aber auch hier ist sie die Außenseiterin.
In der beginnenden Pubertät entwickelt sie zarte Gefühle für einen Jungen aus ihrer Klasse, der sie nicht beachtet. Der Junge hat nur Fußball im Kopf und seine Kumpels. Als dadurch wieder einmal die Hausaufgaben in einem Meer von Tränen zu versinken drohen, hebe ich mir meine große ‚Kleine‘ auf den Schoß, lasse sie sich an meiner Brust ausweinen und warte.
„Die Jungs sind alle doof!“ platzt es plötzlich aus ihr heraus.
Ich umfasse ihren Kopf, der an meinem Herz horcht und streichele ihre Wange.
Sie dreht den Kopf und schaut mich aus großen rotgeweinten Augen an.
„Der Dennis hat nur Augen für seine Kumpels…“
Ich lächele und drücke ihren Kopf sanft an meine Brust.
„Jungs in deinem Alter sind noch nicht so weit wie ihr Mädels. Lass ihn laufen! Es dauert wohl noch ein paar Jahre bis Dennis sich für dich interessiert. Schau dich ruhig erst einmal bei Jungs um, die ein paar Jahre älter sind als du. Dort gibt es genug, die sich auch nur für Sport interessieren, aber die Chance ist größer, dass darunter einer ist, der sich für dich interessiert…“
Es vergehen zwei Jahre in der ihre Gefühlswelt zwischen ‚himmelhoch jauchzend‘ und ‚zu Tode betrübt‘ schwankt. Immer wieder gerät sie an Jungs, die ihr Gefühle vorspielen, aber nur wissen wollen wie es ist, mit einer ‚Behinderten‘ Sex zu haben. Damit disqualifizieren sie sich jedoch bei Andrea, und unser Mädchen gerät wieder einmal in ein emotionales Loch.