Luna -04-
Als sie sich wieder einmal mit einem Jungen verabredet hat, wird Beauty nach einigen Minuten unruhig und kratzt an der Tür. Ich leine sie an und will mit ihr Gassi gehen. Draußen zieht sie an der Leine bis ihr Kopf aus dem Halsband rutscht. Unter Bellen rennt sie in Richtung der kleinen Grünanlage in der Nähe von unserer Wohnung.
Ich halte mich nicht lange mit Abrufen auf, sondern hetze hinter Beauty her. Als ich durch das offene schmiedeeiserne Tor in der Einfassungsmauer laufe, kommen mir drei halbwüchsige Kerle blindlings entgegen. Einer reißt mich fast um. Beauty höre ich in einem Gebüsch an der Innenseite der Mauer bellen. Mich dorthin wendend fällt mir als erstes Andreas Rollstuhl auf, der umgestürzt und leer vor einem Gebüsch liegt.
Bevor die jungen Männer die Grünanlage fluchtartig verlassen haben, hat Beauty‘s Bellen einen gefährlichen Unterton gehabt, den ich noch nie von ihr gehört habe. Ich kann es nur als Raubtierknurren beschreiben. Jetzt wird ihr Bellen von winselnden Zwischentönen begleitet. Ich dränge mich zwischen zwei Büschen hindurch und finde dort Andrea auf dem Boden sitzend. Sie zieht mit beiden Händen ihr T-Shirt zwischen den Beinen lang. Ihre Hose sitzt auf Höhe ihrer Oberschenkel. Beauty steht vor ihr und leckt ihr über das Gesicht, wenn sie den winselnden Ton hören lässt.
Während Andrea nicht aufschaut, trifft mich ein ganz besonderer Blick aus Beauty’s Augen. Ich beuge mich zu meiner Kleinen hinunter und nehme sie in meine Arme. Mit dem Fuß versuche ich den Rollstuhl aufzurichten. Was mir bei den ersten Modellen schonmal gelungen ist, klappt nun nicht. Also gehe ich in die Hocke. Andrea hat ihre Arme inzwischen um meinen Hals gelegt, so habe ich die Hände frei, um den Rollstuhl hinzustellen.
Dann ziehe ich ihren Slip und die Hose wieder hoch und setze sie in den Stuhl. Beauty hat inzwischen Ruhe gegeben.
„Haben sie…?“ frage ich.
Andrea schüttelt stumm den Kopf und streichelt Beauty.
„Aber einen Denkzettel sollten sie bekommen!“ sage ich bestimmt. „Kanntest du sie?“
Andrea nickt und beginnt zu schluchzen.
„Komm, wir gehen nachhause. Wenn du dich in der Lage fühlst, erzähle mir den Hergang, vielleicht auch die Vorgeschichte, falls es eine gibt,“ sage ich mit sanfter Stimme und schiebe den Rollstuhl durch das Tor der Grünanlage.
Zuhause erzählt sie mir am Abend, dass sie sich mit einem der Drei verabredet gehabt hat. Sie haben nebeneinander spazierend geredet und sie hat sich nichts dabei gedacht, dass der junge Mann in die Grünanlage abgebogen ist, weil sie zur Parallelstraße hin einen weiteren Eingang hat. Dann stehen plötzlich seine beiden Kumpels bei ihnen und sie verlangen Sex von ihr, was sie empört ablehnt. Sie haben sie in das Gebüsch gezerrt und angefasst. Und dann war auch schon Beauty da und die Kerle sind geflohen.
Ich habe die Erzählung über das Handy in meiner Hemdtasche aufgenommen und gehe ein paar Tage später, als ich arbeitsfrei bekommen habe, damit in die Schule. In der großen Pause lässt mich die Schulsekretärin zum Direktor durch, dem ich die Datei vorspiele.
„Ich sehe von einer Anzeige ab, weil ich meiner Tochter das nochmalige Durchleben der schlimmen Minuten nicht zumuten will. Achten Sie auf diese Drei!“ sage ich, nachdem die Tondatei zu Ende ist.
Der Mann schaut mich mit steilen Stirnfalten an.
„Was wollen Sie denn dann tun?“ fragt er.
„Ich werde meine Tochter über kurz oder lang von dieser Schule nehmen…“ gebe ich ihm meine Entscheidung bekannt.
„Okay, ich verstehe sie…“
„Ich weiß natürlich, dass es nicht am Lehrerkollegium liegt. Gleiches kann überall geschehen. Berücksichtigen sie den Vorfall einfach in der schulischen Erziehung. Sensibilisieren Sie die Schüler! Machen Sie klar, dass solches von der Gesellschaft nicht geduldet wird.
Damit dann meine Tochter aus der Schusslinie ist, muss sie natürlich irgendwo anders ihre Schule beenden…“
„Okay – und vielen Dank, dass Sie den Vorfall nicht an die große Glocke hängen!“
Der Direktor verabschiedet mich mit Handschlag.

*

Nach dem Vorfall habe ich uns eine Wohnung in einer Kleinstadt in der Nähe unserer bisherigen Heimatstadt angemietet und Andrea geht in die dortige Schule. Anfangs hat sie auch hier ihre Schwierigkeiten. Auch hier ist sie wieder die Außenseiterin. Als dann zwei Schüler sie offen niedermachen in der Pause mischt sich ein junger Mann aus der Abschlussklasse ein. Die Beiden ziehen sich zurück, denn die Pausenaufsicht ist auch schon zur Stelle.
Der junge Mann stellt sich mir kurz nach dem Vorfall als Maik vor und erzählt mir davon.
„Ich möchte Sie gerne zu einem Turnier einladen, dass der örtliche Behindertensportverein veranstaltet,“ sagt er einmal, nachdem er uns mehrfach besucht und mit Andrea in ihrem Zimmer Musik gehört hat.
Ich schaue zu Andrea hinüber, der ein feines Lächeln um die Mundwinkel spielt. Also stimme ich zu.
„Gern, aber sag‘ mal, Maik: Was geht da ab?“
„Nun, zwei Mannschaften – eine Behindertenmannschaft spielen gegen Nichtbehinderte Handball…“
„Wie das?“
Mein Gesicht zeigt Unverständnis.
„Die Nichtbehinderten sitzen ebenfalls auf Rollstühlen. Chancengleichheit ist also gegeben. In der Damenmannschaft können sie sicher noch jemanden gebrauchen…“
„Du meinst – Andrea…“
Ich schaue mit großen Augen Andrea an, die nun zu mir aufschaut.
„Bitte, Papaaa…“
„Vor so einem Turnier muss trainiert werden. Wann und wo…“
„Jeden Dienstagnachmittag in der Turnhalle!“ fällt mir Andrea ins Wort.
„Und wer…“ hake ich nach.