Sonntag, 12. Juli 2020
Luna -18-
„Knieschoner habe ich da, aber keine Lederhandschuhe…“
Er hilft mir die Knieschoner anzuziehen. Dann klettere ich im Vierfüßler-Gang auf die Kaimauer und von dort auf den Kiesweg, der beidseitig des Kanals seinem Lauf folgt. Maik verschließt die Kabine und folgt mir auf den Weg.
Wir gehen ein paar Meter den Weg entlang, dann biegt er auf die Grasfläche ab, die landseitig neben dem Weg liegt. Ich folge ihm.
Maik lässt den Lichtkegel der Taschenlampe wandern. Im Licht der Taschenlampe kann man vereinzelt wachsende Büsche und Bäume erkennen. Wir gehen darauf zu.
Nachdem wir uns ein gutes Stück vom Kanal entfernt haben, erfasst der Lichtkegel ein Tier, das zwischen zwei Büschen steht und aufmerksam zu uns herüberschaut. Maik richtet die Taschenlampe voll auf das Tier. Es sieht aus, wie ein Hund. Aber hier, wo weit und breit kein Mensch ist? Ein Streuner vielleicht?
„Wir gehen langsam an dem Tier vorbei,“ entscheidet Maik. „Wir halten aber Abstand!“
Also biegen wir etwas von der Geraden ab und gehen weiter. Das Tier hat ein rotbraunes Fell und plötzlich kann ich ein Junges unter dem Busch erkennen. Nun hilft auch das Mondlicht dabei, mehr zu erkennen.
Maik schüttelt den Kopf.
„Komm, wir gehen zurück! Ich weiß jetzt, was es ist: Eine Fähe mit ihrem Welpen. Sollte sie uns angreifen, um ihr Junges zu schützen, müssten wir die Bootstour abbrechen und einen Arzt aufsuchen.“
„Warum?“ frage ich und mache ein verständnisloses Gesicht.
„Tollwutgefahr!“ sagt er knapp und dreht um.
Ich bleibe kurz verdattert sitzen. Dann laufe ich hinter Maik her und frage ihn:
„Was ist eine Fähe?“
„So nennt man einen weiblichen Fuchs,“ sagt er.
„Eine Füchsin mit ihrem Welpen in freier Natur!“ rufe ich gedämpft aus.
So ein Erlebnis habe ich noch nie gehabt.
„Wäre dir ein Wolf lieber gewesen?“ versetzt Maik.
„Es gibt doch keine Wölfe mehr!“ antworte ich protestierend.
„Sei dir da nicht so sicher,“ meint er. „Es werden immer mal welche entdeckt, seit vor zwanzig Jahren der eiserne Vorhang in Europa niedergerissen wurde. Seit dem Atomunfall in Tschernobyl können es auch verstrahlte Rudel sein. Sie können ebenso die Tollwut übertragen.“
„Ganze Rudel!?“
Ich bin erstaunt und leicht verängstigt.
„Ja, Wölfe sind nun mal Rudeltiere. Aber Rudel haben selten mehr als ein halbes Dutzend Tiere. Wölfe sind scheu. Du könntest allenfalls einzelne Tiere sehen – Kundschafter!“
„Ich wäre jetzt schon lieber an Bord,“ meine ich und drücke mich an Maiks Bein.
Er lacht und meint:
„Keine Angst, wenn da eine Fähe einen Ausflug mit ihrem Welpen macht, wird kein Wolf in der Nähe sein. Sie hätte die Anwesenheit von Wölfen gespürt. Wölfe spüren ebenso die Anwesenheit von Menschen und halten sich versteckt. Wer sich darauf versteht, kann tagsüber allenfalls deren Spuren sehen.“
„Trotzdem…“ antworte ich.
Er streicht mir sanft über das Haar.
„Wir sind ja gleich wieder zurück!“ versucht er mich zu beruhigen.
Und wirklich, kurz darauf habe ich wieder Kies unter den Knien.
„Wir müssen ein Stück zurückgehen,“ meint Maik.
Wenig später taucht unser Boot im Lichtkegel der Taschenlampe auf. Bald darauf klettere ich an Bord und Maik öffnet den Niedergang.
Ich habe mich auf einen der Sitze gesetzt und löse die Knieschoner vom Bein. Sie stören mich beim Aufrechtgehen. Ich gebe sie Maik. Er geht zuerst nach unten. Dann nutze ich den Niedergang. Maik steht wie immer da und passt auf, dass ich keinen Fehltritt mache. Er schließt den Niedergang wieder und macht Licht. Ich wasche mir nun die Hände am Becken, während Maik schon nach vorne geht.
„Ich muss mal,“ sage ich und betrete die Nasszelle zwischen den beiden Räumen der Kabine.
Als ich herauskomme, hat Maik alle Deckenlampen gelöscht und eine kleine ‚Funzel‘ an seinem Bett eingeschaltet. Er liegt schon unter der Decke, also krabbele ich auf die Liegefläche und schlage die Steppdecke über mich. Ich drehe mich zu Maik und schaue ihn an.
„Der Ausflug hat ja nur eine halbe Stunde gedauert…“
„Ooooch,“ macht er und legt mir seinen Arm um die Schultern. „Welches ist Beautys Lieblingsplatz über Nacht? Schläft sie an ihrem Platz in deinem Zimmer oder im Flur?“
Ich lächele.
„Wenn ich morgens aufwache, liegt sie auf dem Rücken neben mir im Bett. Ich streich ihr dann oft über Brust und Bauch und sie blinzelt mich an und scheint zu grinsen,“ erzähle ich ihm.
„Okay,“ sagt er lächelnd. „Dann schläft die Luna des Nachts auch an meine Seite gekuschelt.“
Er beugt sich zu mir herüber und gibt mir einen langen Kuss, der mich atemlos werden lässt.

*

Am Morgen des nächsten Tages werde ich vom ungewohnten Tageslicht wach. Zuhause weckt mich der Wecker, der auf Musik eingestellt ist. Würde ich vom Weckton geweckt, würde der Wecker nicht lange leben. Da die Rollläden herabgelassen sind, ist es da noch stockfinster.
Hier gibt es keinen Wecker, dafür scheint die aufgehende Sonne durch die Gardinen und taucht die Kabine in ein ungewohntes Dämmerlicht.
Maik regt sich noch nicht. Also kuschele ich mich an ihn und schließe noch einmal die Augen. Bald rührt er sich, hebt den Kopf und gähnt. Dann beginnt er zart über meine Brust und Bauch zu streicheln. Ich drehe mich auf den Rücken und schaue in sein lächelndes Gesicht.



Luna -17-
„Okay,“ sagt er und sucht unter der Spüle nach einer Plastikschüssel, die er mit Wasser füllt und vor mir auf den Tisch stellt. Seife und Handtuch legt er daneben. „Dann wird es so gehen.“
Ich nicke und mache einen langen Hals und spitzen Mund. Wieder beugt er sich zu mir herunter und lässt sich nun von mir küssen.
Bald danach essen wir und zwei meiner Frikadellen verschwinden vorerst im Kühlschrank. Die anderen legt er ins Gefrierfach.
Ich lobe ihn für das Essen. Natürlich schmeckt es bei Mama besser. Aber Maik ist ja auch erst 18. Nachdem er alles aufgeräumt und gespült hat, wobei ich abtrocknen darf, sagt er lächelnd:
„Wir sollten weiterfahren, sonst kommen wir nie auf den Seen an.“
Ich nicke und er hilft mir wieder den ‚Niedergang‘ hoch. Auf dem ‚Achterdeck‘ setze ich mich wieder in den Sitz, während Maik die Taue löst und losfährt. Wieder geht es in Fußgängergeschwindigkeit gegen die Strömung im Randkanal dem Naturschutzgebiet entgegen.
Fünf Stunden später und etwa zwanzig Kilometer weiter melde ich mich wieder:
„Maik…, ich habe Hunger.“
Dabei schaue ich ihn mit gesenktem Kopf unter den Augenlidern hervor an. Er schaut zu mir und lacht.
„Ich wollte noch ein oder zwei Stunden weiterfahren bis es zu dämmern beginnt und dann die Escargot für die Nacht fertigmachen. – Aber natürlich, du hast Recht: Wenn ich in mich hinein höre, regt sich da auch der Hunger.
Denkst du, du kannst die Escargot ein paar Minuten in der Kanalmitte halten, so wie jetzt? Dann gehe ich nach unten und mache schnell zwei Hamburger fertig. Rufe mich sofort, wenn uns ein anderes Boot entgegen kommt!“
Maik steht auf und hilft mir, mich auf seinen Sitz zu setzen, damit ich an das Steuerrad komme. Dann geht er nach unten und ich höre es ab und zu klappern. Nach fünf Minuten etwa rufe ich nach ihm:
„Maik, vorne kommt ein Ruderboot…“
Schnell ist er bei mir und steuert unser Kabinenboot an die Kaimauer heran. Im Abstand von einem halben Meter vielleicht, steuert er wieder gerade aus und gibt mir das Steuerrad wieder in die Hand.
„Versuche, das Boot ruhig zu halten,“ sagt er zu mir. „Bleib in dem Abstand zum Ufer, den wir jetzt haben. Ich bin sofort unten fertig.“
Dann ist er wieder in der Kabine. Als das Ruderboot an uns vorbeitreibt – die Männer haben ihre Ruder aus dem Wasser gehoben -, kommt Maik gerade hoch und hat zwei in Küchenpapier eingeschlagene Brötchen mit den Frikadellen, Gurken, Tomate und Ketchup in den Händen. Er übergibt mir eins und winkt den Männern mit der jetzt freien Hand. Die Männer tauchen ihre Ruder wieder ins Wasser und sind bald kleiner geworden.
„Du kannst sehr gut steuern,“ lobt Maik mich. „Ich glaube, ich kann dich öfter alleine lassen.“
Ich schaue ihn mit großen Augen an und meine schüchtern:
„Solange es nur geradeaus geht…“
Er lächelt zurück.
„Das lernst du alles mit der Zeit! Für jetzt hast du Recht: Solange es geradeaus geht, kann ich dich allein lassen, um etwas in der Küche zu tun, zum Beispiel.“
Als es zu dämmern beginnt halten wir nach Pollern auf der Kaimauer Ausschau. Gut zwanzig Minuten später macht Maik das Boot am Ufer fest.
„Hier übernachten wir und fahren morgen weiter,“ sagt er.
Er hilft mir wieder den Niedergang hinunter und fragt mich:
„Magst du noch ein Video schauen, oder bist du schon zu müde?“
„Ich habe doch heute weiter nichts getan, als herum zu sitzen,“ schmolle ich. „Dann schon lieber ein Video. – Oder, wo sind wir hier eigentlich?“
Maik holt eine Karte aus einem Regalfach und breitet sie auf dem Tisch aus. Ich setze mich.
„Wir sind um elf Uhr etwa gestartet,“ sagt er. „Jetzt haben wir halb zehn und eine Stunde haben wir Pause gemacht. Neunundeinhalb Stunden bei durchschnittlich vier Stundenkilometer sind 38 Kilometer.“
Er nimmt einen Zirkel mit zwei Metallspitzen aus einer flachen Schublade und misst damit einen Kilometer am Rand der Karte ab. Dann sticht er an der Brücke, wo wir gestartet sind, in die Karte und bewegt den Zirkel am Kanal entlang über die Karte, indem er ihn dreht und immer wieder neu einsticht. Dabei zählt er, wie oft er das macht. Schließlich zeigt er auf die Karte und sagt:
„Hier sind wir jetzt.“
„Weit und breit ist kein Ort oder ein Bauernhof,“ stelle ich fest. „Aber das Naturschutzgebiet ist ganz in der Nähe und hier liegt das ‚Haus am See‘.
Ich zeige auf die Karte.
„Ja, stimmt,“ bestätigt er meine Feststellung.
„Keine Menschen in der Nähe und kein anderes Boot – da könnte ich doch einmal die LUNA sein…“ sage ich verschmitzt lächelnd und schaue zu ihm auf.
Er faltet die Karte wieder zusammen und legt den Zirkel weg, dann antwortet er lächelnd:
„Okayyy, aber zuerst bauen wir die Betten und machen alles für die Nacht fertig. Dann machen wir einen kleinen Ausflug in die Umgebung.“
Maik geht nach vorne und zieht die Sitzfläche einer Bank vor. Er holt das Bettzeug darunter hervor. Dann hängt er das Rückenpolster aus und legt es auf die Lücke. Dahinter kommt ein Regal zum Vorschein. Nun legt er das Bettzeug auf und zieht es glatt. Dann zieht er sich seine Schuhe aus und verfährt genauso mit dem Bett daneben. Um das Bettzeug festzustecken muss er auf das Bett klettern. Schließlich zieht er sich die Schuhe wieder an und nimmt eine dünne Taschenlampe aus der Schublade, in der auch der Zirkel liegt, den er vorhin gebraucht hat.
Er sichert mich wieder beim Erklimmen des Niedergangs und fragt:
„Hast du eigentlich Knieschoner und Lederhandschuhe, damit du dich nicht verletzt an spitzen Steinen, mit denen man draußen immer rechnen muss?“
Ich schüttele den Kopf.
„Leider nein, mein fürsorgliches Herrchen.“
Ich kann im Dunkeln schemenhaft sehen, dass er grinst. Er geht noch einmal zurück in die Kabine.