Donnerstag, 16. Juli 2020
Luna -26-
Sie begleiten uns zu einem Geländewagen auf dem Bahnhofs-Vorplatz. Dann dauert es noch anderthalb Stunden, bis wir zu einem Bauernhof kommen, etwa einen Kilometer außerhalb eines Ortes. Onkel Hans zeigt uns unsere Zimmer im Giebel des Wohnhauses. Es sind zwei kleine Mansarde-Zimmer, zu denen hinzukommen mit einem Rollstuhl ziemlich beschwerlich ist. Aber zumindest haben wir auf dieser Etage ein eigenes Bad – und Maik hilft mir auf den Treppen. Trotzdem, es dauert jedesmal bestimmt zehn Minuten bis wir im Parterre sind oder von dort auf unserer Etage.
Nach einem gemeinsamen Essen mit der ganzen Familie bitte ich Maik, mich nach oben zu bringen. Ich möchte mich erst einmal ausruhen von der langen Fahrt. Maik sagt lächelnd zu. Oben sage ich mit unsicherer Stimme und scheuem Blick:
„Es tut mir leid, dass ich dir solche Unannehmlichkeiten mache…“
„Ach, Quatsch!“ unterbricht er mich. „Es geht nun einmal nicht anders – und ich tue das gerne für dich! Du bist mir keine Last!“
Spontan umarme ich Maik und lege mich auf das Bett nachdem Maik die Tagesdecke zurückgeschlagen hat. Ich frage ihn:
„Was machst du heute noch?“
„Nicht mehr viel,“ antwortet er mir. „Ich gehe runter zu Onkel Hans und lasse mir erklären, welche Arbeiten in den nächsten Tagen anstehen. Wenn ich mir einen groben Überblick verschafft habe, komme ich auch hoch.“
„Hier ist eine Wand zwischen dir und mir…“
Maik lächelt mich fröhlich an.
„Sei nicht traurig, Liebes! Die Leute hier sind halt noch sehr religiös. Sonn- und Feiertage werden eingehalten. Sie strukturieren damit das Leben auf dem Land ähnlich wie wir es mit den Wochenenden tun, in der Stadt. Und dazu gehört auch, dass man getrennt schläft, solange man noch nicht verheiratet ist. Das heißt aber nicht, dass ich dein Zimmer nicht betreten darf oder du meins. Auch darfst du mich ruhig in der Öffentlichkeit küssen, wenn dir danach ist!“
Ich bin etwas ruhiger, nachdem er das gesagt hat, und verabschiede mich von ihm mit einer Umarmung und einem Kuss.
Neben meinem Bett steht ein Radiowecker. Ich höre mir an, welche Sender es hier gibt und welche Musik sie bringen. Schließlich entscheide ich mich für einen Sender und lasse ihn laufen. Ich lege mich auf den Rücken und schaue zur Decke, ohne dort etwas wahrzunehmen. Meine Gedanken sind bei Maik. Allmählich falle ich in einen unruhigen Schlaf.

*

Als ich am nächsten Morgen aufwache ist es draußen schon hell. Maik hat den schweren blickdichten Vorhang vor dem kleinen Dachfensterchen weggezogen und sich neben mich auf das Bett gesetzt.
„Einen wunderschönen, sonnigen Ferienmorgen wünsche ich dir,“ begrüßt er mich.
Dann beugt er sich über mich, um mir einen Guten-Morgen-Kuss zu geben. Ich schlinge meine Arme um seinen Hals und ziehe mich etwas aus den Kissen hoch, um seinen zarten Kuss zu erwidern.
Danach steht er auf und schiebt den Rolli direkt neben das Bett. Ich habe mich in der Zwischenzeit aufgesetzt und die Beine aus dem Bett geschwungen. Dann stemme ich mich hoch und stütze mich an der Armlehne des Rollis ab, während ich mich drehe und in den Sitz sinke. Nun fährt Maik mich hinaus auf den Gang und in das kleine Bad auf dieser Etage.
„Bist du schon fertig?“ frage ich ihn.
„Ja, ich war vorhin zuerst hier drin, bevor ich dich geweckt habe,“ bestätigt er mir. „Das Handtuch hier und der Waschlappen sind deine. Auch dieses Badetuch.“
Er zeigt mir die Tücher. Ich schaue ihn fragend an.
„Was soll ich gleich anziehen?“
Er schüttelt lächelnd mit dem Kopf.
„Mach dir keine Umstände!“ meint er. „Jeans und Pulli reichen völlig. Auch wenn wir heute schon vor die Tür gehen, um uns alles in Ruhe anzusehen.“
„Bringst du mir die Sachen?“ frage ich lächelnd zurück.
Er nickt und verlässt das Bad. Ich streife den Pyjama ab und stehe aus dem Rolli auf. Dann gehe ich kurz unter die Dusche. Maik kommt gerade wieder zur Tür herein, als ich aus der Dusche komme und mir schnell das Badetuch um die Schultern binde. Als nächstes rubbele ich mir die Haare mit dem Handtuch und binde es zu einer Art Turban. Maik legt die Oberbekleidung aus meiner Reisetasche über die Rückenlehne des Rollis und schaut mich dann fragend an.
„Socken, Slip und BH fehlen noch,“ meine ich lächelnd und küsse ihn flüchtig auf die Wange.
Er grinst und meint: „Deine Schuhe natürlich auch.“
„Bitte sei so lieb,“ sage ich und zwinkere ihm zu.
Maik verlässt das Bad noch einmal, währenddessen ich mich abtrockne. Dann ist er wieder zurück. Ich föne mir die Haare, putze die Zähne und lasse mir von Maik beim Ankleiden helfen, obwohl ich zuhause keine Hilfe mehr brauche. Aber es ist schön, jemanden bei mir zu wissen, der auf mich achtet. Dabei frage ich ihn:
„Gibt es bei deinem Onkel eigentlich feste Frühstückszeiten?“
„Ja-ein,“ antwortet Maik ausweichend. „Wir haben Ferien. – Klar, wenn ich alleine hier wäre, gäbe es feste Zeiten. Aber mit dir zusammen kann ich mir schon erlauben, die Essenszeiten nicht so streng einzuhalten.“
„Maaaik!“ ziehe ich den Namen lang und schaue mit gerunzelter Stirn zu ihm auf. „Ich will keine Extrawurst!“
„Das Haus ist nicht behindertengerecht,“ stellt Maik fest. „Wir müssten uns früher als der Rest der Familie fertigmachen. Das wissen die Anderen und nehmen Rücksicht!“
Wie zur Bestätigung hören wir in diesem Moment draußen an der Treppe Maiks Onkel rufen:
„Maik? Seid ihr soweit?“
Maik öffnet die Badtür einen Spalt und ruft zurück:
„Sofort, Onkel Hans!“
Ich bin inzwischen fertig und setze mich in den Rolli. Maik schiebt mich in den Gang. Ich wende mich halb zu ihm um und gebe ihm meinen Pyjama.
„Wir sind alleine hier,“ sagt er und hängt den Pyjama an den Haken innen an der Badtür.



Luna -25-
Nun dreht er sich um, sieht mich und lacht kurz auf.
„Liebes, entspanne dich ruhig nach dem Schrecken!“ sagt er.
„Kommst du?“ frage ich und rutsche mehr zur Wand.
„Gern,“ antwortet Maik und kommt zu mir, um nun seinerseits auf die Liegefläche zu krabbeln.
Er nähert sich mir und legt seinen Arm auf meine Schultern. Ich kuschele mich an ihn und lege meinen Kopf an seine Achsel. Ein wunderschönes Gefühl von Geborgenheit lässt mich genießerisch die Augen schließen.

*

Als ich vor Wochen mit Maik von der Bootstour zurückgekommen bin, haben mich Mama und Papa mit Fragen bestürmt. Ich habe ihnen also in groben Zügen erzählt, was ich mit Maik auf der Escargot erlebt habe, ohne etwas von meiner Rolle als LUNA zu erwähnen.
Nach den Sommerferien hat Maik einen Ausbildungsplatz als Tierpfleger mit der Option einer Weiterbildung zum Tiertrainer im Tierheim, etwa zwanzig Kilometer von unserer Kleinstadt entfernt, angetreten. Sein Vater hätte ihn lieber in einem technischen Beruf gesehen, mit der Option eines anschließenden Ingenieurstudiums. Aber er hat sich dann doch damit abgefunden.
Da die Verbindung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin nicht so gut ist, hat ihm sein Vater ein Moped vorfinanziert, das er ihm in monatlichen Raten zurückzahlen muss. Bei unseren Treffen erzählt er mir, dass es eigentlich nicht üblich ist, gleich nach Ende der Probezeit Urlaub zu bekommen, aber sein Chef hätte ihm zur Auflage gemacht einen Bericht über die Arbeit auf dem Hof seines Onkels zu schreiben, in dem möglichst viele Aspekte seines Ausbildungsberufes berücksichtigt werden müssen. Damit könne er die zwei Wochen in Süddeutschland als Praktikum werten.
Nun ist also der Tag der Abreise gekommen und ich darf Maik begleiten! Mama und Papa bringen mich zum Hauptbahnhof der Stadt, in der wir früher gewohnt haben. Beauty ist auch dabei. Papa lässt es sich nicht nehmen, mich durch die Halle hin zu den Bahnsteigen zu schieben. Mein Gepäck füllt meine Reisetasche bis zum letzten Winkel. Sie liegt vor mir auf meinen Oberschenkeln.
Dann haben wir den richtigen Bahnsteig erreicht. Papa fährt mit mir die Rollbahn hinauf, die man anstelle der Rolltreppe vor Jahren an deren Stelle eingebaut hat. Mama führt Beauty daneben die Treppe hinauf. Oben schaue ich den Bahnsteig hinauf und hinab, und entdecke Maik mit seinen Eltern am anderen Treppenaufgang. Wir wenden uns dorthin und begrüßen die Familie Haller herzlich. Zehn Minuten später fährt unser Zug ein.
Nachdem die Fahrgäste ausgestiegen sind schiebt Papa mich zum Zugbegleiter. Der Mann steigt ein und betätigt den Behindertenaufzug. Das ist eine Plattform, die innen senkrecht an der Wand lehnt. Sie fährt nach draußen und dreht sich waagerecht. Dann kommt sie herunter auf das Niveau des Bahnsteigs. Ich fahre meinen Rolli auf die Plattform, arretiere die Bremsen und halte mich am Haltebügel fest. Dann betätigt der Zugbegleiter die Fernbedienung und die Plattform fährt hoch auf das Niveau des Waggons. Als ich die Plattform verlassen habe, fährt der Mann den Behinderten-Aufzug wieder in seine Ruheposition und Maik steigt ein. In der Hand einen großen Koffer.
Wir suchen das Abteil mit den reservierten Sitzplätzen. Dann hilft mir Maik auf die Sitzbank im Abteil und klappt den Rolli zusammen. Nachdem er seinen Koffer und meine Reisetasche über unseren Köpfen verstaut hat, öffnet er das Fenster und winkt unseren Eltern. Bald darauf stehen sie draußen neben dem Waggon und verabschieden sich von uns, nicht ohne uns eine Menge gutgemeinter Ratschläge mit auf den Weg zu geben.
Nachdem der Zug abgefahren ist dauert es eine Weile, bis der Zugbegleiter unsere Fahrscheine kontrolliert. Bei der Gelegenheit fragt ihn Maik:
„Wo können wir den Rolli während der Fahrt unterbringen? Er stört die anderen Fahrgäste im Abteil ein wenig!“
Der Mann schaut sich oben im Gepäckbereich um und meint dann:
„Kommen Sie mal mit…“
Maik nimmt den zusammengeschobenen Rolli und folgt dem Zugbegleiter. Bald kommt er zurück und erklärt mir:
„Etwas weiter hinten können Fahrräder deponiert werden. Da habe ich den Rolli festgemacht. Kurz vor dem Ziel hole ich ihn dir wieder her.“
Ich lächele ihn dankbar an.
Drei Stunden später auf halber Strecke bekomme ich Hunger.
„Maik? Der Zug hat doch sicher ein Restaurant…“
„Natürlich!“ gibt er zurück. „Dies ist ein ICE!“
„Unsere Brote können wir sicher später noch essen, wenn du dann Kaffee besorgst. Schaust du mal, was es dort Warmes gibt, das man auch im Abteil essen kann? Bitte.“
Ich recke mich etwas und gebe ihm einen Kuss auf die Wange. Maik steht lächelnd auf und nickt. Wenig später bringt er zwei Portionen Bratwurst mit Pommes Frites, die ich sehr genieße. Danach lehne ich mich bei ihm an und das monotone Geräusch in der Bahn lässt mich schnell einschlummern.
Schließlich werde ich von Maik sanft geweckt.
„Wir sind gleich da,“ meint er.
„Was? Wie?“ antworte ich ihm, noch etwas verschlafen. „Wieviel Uhr haben wir denn?“
„Zehn vor Vier!“ sagt er. „In einer Viertelstunde erreichen wir Stuttgart.“
„Oh,“ sage ich erstaunt und richte mich in meinem Sitz auf.
„Ich gehe jetzt den Rolli holen!“ entscheidet Maik und verlässt das Abteil.
Kurz darauf ist er mit dem Rolli zurück. Wir lassen ihn noch zusammengeklappt, um die anderen Fahrgäste nicht zu sehr zu stören. Als der Zugbegleiter auf dem Gang vorbei geht, fragt Maik ihn, ob er auch beim Aussteigen beim Behinderten-Aufzug helfen kann, was dieser bejaht.
Als wir auf dem Bahnsteig stehen und zuerst nicht wissen, welchen Aufgang zu den Gleisen wir hinunter gehen sollen, entdeckt Maik seinen Onkel und Tante. Sie kommen uns entgegen und begrüßen uns herzlich. Der Onkel sieht Maiks Vater sehr ähnlich, nur dass er ein paar Jahre älter sein muss.