Luna -25-
Nun dreht er sich um, sieht mich und lacht kurz auf.
„Liebes, entspanne dich ruhig nach dem Schrecken!“ sagt er.
„Kommst du?“ frage ich und rutsche mehr zur Wand.
„Gern,“ antwortet Maik und kommt zu mir, um nun seinerseits auf die Liegefläche zu krabbeln.
Er nähert sich mir und legt seinen Arm auf meine Schultern. Ich kuschele mich an ihn und lege meinen Kopf an seine Achsel. Ein wunderschönes Gefühl von Geborgenheit lässt mich genießerisch die Augen schließen.

*

Als ich vor Wochen mit Maik von der Bootstour zurückgekommen bin, haben mich Mama und Papa mit Fragen bestürmt. Ich habe ihnen also in groben Zügen erzählt, was ich mit Maik auf der Escargot erlebt habe, ohne etwas von meiner Rolle als LUNA zu erwähnen.
Nach den Sommerferien hat Maik einen Ausbildungsplatz als Tierpfleger mit der Option einer Weiterbildung zum Tiertrainer im Tierheim, etwa zwanzig Kilometer von unserer Kleinstadt entfernt, angetreten. Sein Vater hätte ihn lieber in einem technischen Beruf gesehen, mit der Option eines anschließenden Ingenieurstudiums. Aber er hat sich dann doch damit abgefunden.
Da die Verbindung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin nicht so gut ist, hat ihm sein Vater ein Moped vorfinanziert, das er ihm in monatlichen Raten zurückzahlen muss. Bei unseren Treffen erzählt er mir, dass es eigentlich nicht üblich ist, gleich nach Ende der Probezeit Urlaub zu bekommen, aber sein Chef hätte ihm zur Auflage gemacht einen Bericht über die Arbeit auf dem Hof seines Onkels zu schreiben, in dem möglichst viele Aspekte seines Ausbildungsberufes berücksichtigt werden müssen. Damit könne er die zwei Wochen in Süddeutschland als Praktikum werten.
Nun ist also der Tag der Abreise gekommen und ich darf Maik begleiten! Mama und Papa bringen mich zum Hauptbahnhof der Stadt, in der wir früher gewohnt haben. Beauty ist auch dabei. Papa lässt es sich nicht nehmen, mich durch die Halle hin zu den Bahnsteigen zu schieben. Mein Gepäck füllt meine Reisetasche bis zum letzten Winkel. Sie liegt vor mir auf meinen Oberschenkeln.
Dann haben wir den richtigen Bahnsteig erreicht. Papa fährt mit mir die Rollbahn hinauf, die man anstelle der Rolltreppe vor Jahren an deren Stelle eingebaut hat. Mama führt Beauty daneben die Treppe hinauf. Oben schaue ich den Bahnsteig hinauf und hinab, und entdecke Maik mit seinen Eltern am anderen Treppenaufgang. Wir wenden uns dorthin und begrüßen die Familie Haller herzlich. Zehn Minuten später fährt unser Zug ein.
Nachdem die Fahrgäste ausgestiegen sind schiebt Papa mich zum Zugbegleiter. Der Mann steigt ein und betätigt den Behindertenaufzug. Das ist eine Plattform, die innen senkrecht an der Wand lehnt. Sie fährt nach draußen und dreht sich waagerecht. Dann kommt sie herunter auf das Niveau des Bahnsteigs. Ich fahre meinen Rolli auf die Plattform, arretiere die Bremsen und halte mich am Haltebügel fest. Dann betätigt der Zugbegleiter die Fernbedienung und die Plattform fährt hoch auf das Niveau des Waggons. Als ich die Plattform verlassen habe, fährt der Mann den Behinderten-Aufzug wieder in seine Ruheposition und Maik steigt ein. In der Hand einen großen Koffer.
Wir suchen das Abteil mit den reservierten Sitzplätzen. Dann hilft mir Maik auf die Sitzbank im Abteil und klappt den Rolli zusammen. Nachdem er seinen Koffer und meine Reisetasche über unseren Köpfen verstaut hat, öffnet er das Fenster und winkt unseren Eltern. Bald darauf stehen sie draußen neben dem Waggon und verabschieden sich von uns, nicht ohne uns eine Menge gutgemeinter Ratschläge mit auf den Weg zu geben.
Nachdem der Zug abgefahren ist dauert es eine Weile, bis der Zugbegleiter unsere Fahrscheine kontrolliert. Bei der Gelegenheit fragt ihn Maik:
„Wo können wir den Rolli während der Fahrt unterbringen? Er stört die anderen Fahrgäste im Abteil ein wenig!“
Der Mann schaut sich oben im Gepäckbereich um und meint dann:
„Kommen Sie mal mit…“
Maik nimmt den zusammengeschobenen Rolli und folgt dem Zugbegleiter. Bald kommt er zurück und erklärt mir:
„Etwas weiter hinten können Fahrräder deponiert werden. Da habe ich den Rolli festgemacht. Kurz vor dem Ziel hole ich ihn dir wieder her.“
Ich lächele ihn dankbar an.
Drei Stunden später auf halber Strecke bekomme ich Hunger.
„Maik? Der Zug hat doch sicher ein Restaurant…“
„Natürlich!“ gibt er zurück. „Dies ist ein ICE!“
„Unsere Brote können wir sicher später noch essen, wenn du dann Kaffee besorgst. Schaust du mal, was es dort Warmes gibt, das man auch im Abteil essen kann? Bitte.“
Ich recke mich etwas und gebe ihm einen Kuss auf die Wange. Maik steht lächelnd auf und nickt. Wenig später bringt er zwei Portionen Bratwurst mit Pommes Frites, die ich sehr genieße. Danach lehne ich mich bei ihm an und das monotone Geräusch in der Bahn lässt mich schnell einschlummern.
Schließlich werde ich von Maik sanft geweckt.
„Wir sind gleich da,“ meint er.
„Was? Wie?“ antworte ich ihm, noch etwas verschlafen. „Wieviel Uhr haben wir denn?“
„Zehn vor Vier!“ sagt er. „In einer Viertelstunde erreichen wir Stuttgart.“
„Oh,“ sage ich erstaunt und richte mich in meinem Sitz auf.
„Ich gehe jetzt den Rolli holen!“ entscheidet Maik und verlässt das Abteil.
Kurz darauf ist er mit dem Rolli zurück. Wir lassen ihn noch zusammengeklappt, um die anderen Fahrgäste nicht zu sehr zu stören. Als der Zugbegleiter auf dem Gang vorbei geht, fragt Maik ihn, ob er auch beim Aussteigen beim Behinderten-Aufzug helfen kann, was dieser bejaht.
Als wir auf dem Bahnsteig stehen und zuerst nicht wissen, welchen Aufgang zu den Gleisen wir hinunter gehen sollen, entdeckt Maik seinen Onkel und Tante. Sie kommen uns entgegen und begrüßen uns herzlich. Der Onkel sieht Maiks Vater sehr ähnlich, nur dass er ein paar Jahre älter sein muss.