Freitag, 10. Juli 2020
Luna -14-
„Hey Liebes,“ antwortet Maik und legt seinen Arm um mich. „Es heißt ‚Spaß ist Spaß und Ernst ist Ernst‘. Ein Spiel muss Beiden Spaß machen! Einen ständigen Machtkampf führen, wer von uns beiden nun das „Alphatier“ ist, dich ständig bezwingen zu müssen, das liegt mir nicht! Wenn so etwas vorkommt, zeige ich dir mein Missfallen schon! Nur eben nicht durch anbrüllen und schlagen, sondern eher nonverbal durch einen traurigen Gesichtsausdruck und indem ich dich kurze Zeit ignoriere, dir meine Zuwendung entziehe!“
„Das empfinde ich als die schlimmere Variante!“ stelle ich traurig fest und kuschele mich an ihn.
„Denk an den Charakter der LUNA!“ antwortet er. „Sie ist verspielt, mag es aber in der Familie zu leben. Sie wird also aufhören zu zicken, wenn sie spürt, dass ihr Herrchen über ihr Verhalten traurig ist.“
„Ich denke daran!“ verspreche ich Maik, zu ihm aufschauend.
„Junge Hunde versuchen – wie junge Menschen auch – ihre Grenzen auszutesten,“ sagt Maik. „Das fordert das Alphatier des Rudels heraus. Es zeigt gebremste Aggression – eine deutliche Warnung! Dann folgt das Beschwichtigungssignal des Jüngeren oder ein gebremster Angriff des Alphatiers: Ein Zwicken, kein Beißen, kein Verletzen. Das reicht eigentlich aus, die Ordnung im Rudel wiederherzustellen.
Übertragen auf unser Rollenspiel heißt das: Wirst du übermütig oder widerspenstig, erfolgt meinerseits eine verbale Warnung und Leckerlis werden gestrichen. Ich korrigiere geduldig. Du hast die Chance, dich wieder angepasst zu verhalten, Wohlverhalten zu zeigen. Im gegenteiligen Fall entziehe ich dir eben kurze Zeit meine Zuwendung.“
Wir sitzen einige Minuten still nebeneinander. Irgendwo muss ich ihm Recht geben. Ein Spiel soll beiden Mitspielern Spaß machen. Ich darf den Bogen nicht überspannen – und ich will Maik auch nicht enttäuschen. Ich habe ihn liebgewonnen!
Schließlich macht er weiter.
„Will ich, dass du nur mit den Vorderpfoten irgendwo drauf steigst, sage ich AUF und lege dabei die Hand irgendwo drauf, genau wie bei dem Kommando HOPP. So kann ich dir zum Beispiel in aller Ruhe die Zähne putzen…“
„Die Zähne putzen?“ frage ich ihn belustigt.
„Das war nur ein Beispiel. Der Herr pflegt ja schließlich seinen Hund. Ich kann dich dann zum Beisiel auch kämmen, eincremen, oder was auch immer.“
„Ahso,“ kommentiere ich seine Aussage, immer noch belustigt.
„Das gegenteilige Kommando heißt dann natürlich AB,“ sagt er nun. „Dann gehst du wieder auf alle Viere.“
Ich gehe auf alle Viere vor meiner Zweisitzer-Couch und spiele noch einmal alles mit ihm durch, denn es ist wieder Zeit für ihn nachhause zu gehen.

*

Wochen später hat Maik sein Abschlusszeugnis bekommen und eine Sause mit seinen Kumpels gemacht. Am nächsten Tag verbringt er die meiste Zeit im Bett. Am Abend kommt er doch noch zu mir. Aber man merkt ihm die Nachwirkungen der Sause noch an. Ich bemuttere ihn und er lässt es zu. Ich freue mich, ihm auf diese Weise ein wenig seiner Fürsorge für mich zurückgeben zu können.
Jetzt haben wir sechs Wochen Ferien. Danach wird er auf einem Berufskolleg sein Abitur machen. Vielleicht mache ich das Gleiche, wenn ich in zwei Jahren ebenfalls mein Abschlusszeugnis bekomme – bis auf die Sause. Darauf verzichte ich gerne!
Nach einer Woche fragt er Mam und Paps, ob sie es erlauben, dass ich für ein paar Tage mit ihm weg fahre. Papa macht ein besorgtes Gesicht.
„Papaa, bitteee…“ ziehe ich die Worte in die Länge und schaue ihn in bekannter Manier von unten herauf an.
„Ihr ward noch nie über Nacht alleine,“ gibt er zu bedenken.
„Papa! Ich nehme die Pille!“ gebe ich entrüstet zurück.
Maik schaltet sich ein. Er verspricht:
„Ich achte auf Andrea, Herr Weiler! Ich passe auch auf, dass sie die Pille nicht vergisst!“
„Manfred…“ sagt Mama da gedehnt.
„Also gut,“ lenkt Papa ein. „Denkt daran: Schule und Ausbildung sollen in eurem Alter an erster Stelle stehen!“
„Es wird schon nichts passieren, Papa!“ versichere ich noch einmal.
Maik will mir nicht sagen, was er vorhat. Ich bin auf den Ausflug gespannt wie ein Flitzebogen. Denn er hätte meine Eltern nicht gefragt, wenn wir in der Nähe bleiben und ich bei ihm im Zimmer übernachten soll. Seine Eltern müssen ihm zum Abschluss der Realschule etwas geschenkt haben, an dem ich teilhaben darf.
In der vierten Woche der Sommerferien holt er mich schon am Vormittag zuhause ab. Ich habe eine Reisetasche mit allem gepackt, was man so für eine Woche Urlaub brauchen könnte. Die nehme ich nun auf den Schoß und folge Maik durch den Ort. Er schlägt den Weg Richtung ‚Busch‘ ein.
Unterwegs reden wir über alles Mögliche, nur wenn ich das Gespräch auf das Ziel unseres Spaziergangs lenken will, blockt er lächelnd ab. Was für Möglichkeiten bietet denn der Weg, den wir gehen? Eine große Reise zusammen mit mir kann es nicht werden. Dann wären wir zu ihm nachhause gegangen und sein Vater hätte uns zum Hauptbahnhof in der Großstadt gefahren, wo ich vorher gewohnt habe. Im ‚Busch‘ ist nichts, wo man eine Woche mit Übernachtung bleiben könnte…
Wir gehen an Maiks magischem Ort, dem Zwillingsbaum, vorbei weiter auf den ‚Busch‘ zu. Dazu müssen wir eine Brücke überqueren, die den Randkanal überspannt. Links davon liegt die schräge Fläche, die sogenannte Slipanlage, neben der der Schuppen des örtlichen Sportvereins steht. Dort sind die Kanus der Kanuten-Abteilung untergebracht. Rechts der Brücke befindet sich eine senkrechte Betonmauer mit einer stählernen Leiter in einer Nische und mehreren Pollern auf der Mauerkrone. Ich erkenne das Auto von Maiks Eltern am Straßenrand.
Als wir das Auto erreichen steigt Maiks Vater aus. Jetzt sehe ich, dass hinter dem Auto ein leerer Bootsanhänger festgemacht ist. Drüben an den Pollern erkenne ich die Aufbauten irgendeines Bootes.
„Maik…“ sage ich und mache große Augen.
Da unterbricht mich schon Maiks Vater. Er lächelt mich an.



Luna -13-
„Wenn du im Schwimmbad bist, ist die Schwerkraft weitgehend aufgehoben. Die Gelenke werden entlastet… Kannst du eigentlich schwimmen?“
„Nein, ich habe leider nie schwimmen gelernt. Als das in der Grundschule angeboten wurde, war ich als Rollstuhlfahrerin davon befreit. Niemand hat sich den Gedanken gemacht, wie du jetzt gerade. – Andererseits: Mein Papa arbeitet in der Binnenschifffahrt und kann auch nicht schwimmen…“
„Was??“ ruft Maik erstaunt aus und lacht über das ganze Gesicht.
„Ja,“ lächele ich zurück. „Er sagt, so tief ist der Fluss nicht. Sollte das Schiff wirklich mal untergehen, dann geht er einfach ein Deck höher und ist schon wieder auf dem Trockenen…“
„Aber – sieh es mal von der Therapieseite her. Schwimmen entlastet die Gelenke. Das kann dir jeder Arzt bestätigen! Der Rolli wird zwar immer dein wichtigstes Hilfsmittel bleiben, aber regelmäßiges Schwimmen tut dir bestimmt gut.“
„Du magst recht haben, aber ob Papa dem zustimmt? Er hat immer so viel Angst, dass mir etwas passieren könnte…“
„Er kann dich nicht dein Leben lang in Watte packen, Maus! Außerdem bin ich stets in deiner Nähe! Ich lasse dich keine Sekunde aus den Augen!“
Maik ist so süß! Ich lasse mich überreden und mache nun zweimal in der Woche Sport. An einem Nachmittag bin ich im Handballtraining der Behindertensportgruppe. An dem anderen Nachmittag gehe ich mit Maik in das Hallenbad neben dem Sportplatz. Zuhause erzähle ich nichts davon, um Mam und Paps nicht zu beunruhigen.
Maik nimmt mich im Hallenbad aus dem Rolli und trägt mich die Treppe hinunter ins Wasser. Dabei halte ich mich an Maiks Hals fest. Im Wasser lässt er mich los und hält mich mit den Händen unter dem Bauch an der Wasseroberfläche. Ich halte mich weiter an seinem Hals und er zieht mich dann durch das Wasser. Die Unsicherheit lässt mich anfangs kichern. Dadurch bekomme ich Wasser in den Mund und ich muss spucken. Er hält inne und geht mit mir an den Rand.
„Halte dich am Rand fest,“ meint er.
Zögernd lasse ich ihn los und kralle mich an den Rand.
„Versuche dich jetzt einmal hinzustellen!“
Ich berühre mit den Füßen den Boden und richte mich auf. Das Wasser ist hier nur ein Meter zwanzig tief. Es reicht mir bis zu Brust.
„Spürst du, dass du im Wasser leichter bist? Deine Hüftgelenke sind nicht so beansprucht wie an Land?“
„Ja,“ bestätige ich seine Annahme.
„Warte hier,“ meint er nun, „ich hole beim Bademeister ein Schwimmbrett.“
Dann stößt er sich vom Beckenboden ab und schwingt sich aus dem Becken. Bald darauf kommt er mit einem ovalen Brett zurück. Er kommt wieder zu mir ins Becken, legt das Brett auf das Wasser und schiebt sich mit dem Oberkörper darauf. Mit ein paar Schwimmzügen ist er neben mir.
„Siehst du, das Brett trägt dich. Leg dich mal drauf!“
Ich lasse den Beckenrand los und er drückt das Brett unter Wasser. Ich fasse es oben und er hilft mir mich darauf zu legen. Dann zieht er mich wieder eine Runde durch das Wasser. Dann sagt er:
„Mach jetzt mal Schwimmbewegungen mit den Beinen wie ein Frosch.“
Ich versuche es. Maik korrigiert mich geduldig. Danach soll ich mich höher auf das Brett ziehen und die Armbewegungen machen. Auch jetzt ist er sehr geduldig mit mir. Bis zum Turnier habe ich es geschafft, auch leidlich schwimmen zu können.

*

Bei unseren Treffen in meinem Zimmer haben wir begonnen über das Anime-Manga INUMIMI zu sprechen. Maik sagte mir, dass das nicht so ganz zu dem passt, was ich real spiele. In dem Manga geht es um drei Hunde, die zu Menschen werden und sich nun in der Menschenwelt zurechtfinden müssen.
Wenn ich aber auf allen Vieren mit Beauty spiele vergesse ich die Menschenwelt um mich herum und ich werde zu dem Tier, das ich in meiner Phantasie bin – die Corgie-Hündin LUNA aus dem Manga. Ich gehe also den umgekehrten Weg.
Aber er meint es nicht böse. Er will mir nur einen ‚Spiegel vorhalten‘ sagt er und würde gerne eine Rolle in meinem Spiel übernehmen, und zwar den des Herrchens.
Dann erklärt er mir, wie er sich die Ausgestaltung seiner Rolle vorstellt. Je mehr ich ihm zuhöre, desto neugieriger bin ich darauf, das mit ihm einmal durchzuspielen. Er sagt, dass sein Onkel in Süddeutschland Hunde züchtet und er in den Ferien schon oft beim Hundetraining dabei war. Sie würden keinen Zwang anwenden, keine Hilfsmittel verwenden, die Schmerzen verursachen, sondern mit viel Geduld, Lob und Belohnung die jungen Hunde motivieren.
Ich habe mir einige Hundekommandos erklären lassen und sie dann mit ihm durchgespielt. Das ist lustig gewesen! Beim nächsten Treffen hat er mir weitere Hundekommandos erklärt:
„Das nächste Kommando nun,“ sagt er, „heißt BLEIB. Wenn du also mit SITZ oder PLATZ einen Platz eingenommen hast, sage ich BLEIB. Dann gehe ich weg und tue etwas. Bleibst du wirklich an deinem Platz ohne aufzustehen und herumzulaufen, dann erhältst du, wenn ich zu dir zurückkomme, wieder eine Belohnung. Stehst du aber zwischendurch auf, wirst du dafür nicht bestraft. Du bist für mich ein fühlendes Wesen und dir sind vielleicht die Glieder eingeschlafen… Wenn ich also zu dir zurückkomme und du begrüßt mich stehend, dann hörst du einfach wieder das Kommando zum Hinsetzen oder Hinlegen und ich übe das Ganze noch einmal. Du wirst mich dabei schon informieren - verbal oder nonverbal - dass dir die Glieder eingeschlafen sind oder dir langweilig wurde oder was auch immer los ist.“
„Hm, und wenn ich den Schalk im Nacken habe und bloß herumzicke?“ frage ich ihn lächelnd.
„Wenn ich mir fortgesetzt Mühe gebe und du ständig etwas anderes machst? In gewissem Rahmen lasse ich das durchgehen, aber irgendwann muss ich mir dann schon sagen, dir fehlt es an Engagement, deine Rolle auszufüllen. – Und mich fragen, ob ich wohl der Richtige für dich bin…“
Ich mache ein enttäuschtes Gesicht.
„Du magst dann nichts mehr von mir wissen wollen?“ frage ich.